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Wir toeten nicht jeden

Wir toeten nicht jeden

Titel: Wir toeten nicht jeden
Autoren: Carlos Salem
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Neurochirurg.
    Ich hingegen brachte es nur bis zum Pharmareferenten.
    Oder so was Ähnlichem.
    »Dein Problem ist, Doc, dass du gern schwimmst, dich dabei aber nicht nass machen willst«, sagte die frühere Nummer Drei immer zu mir. »Wenn du jemanden ins Jenseits beförderst und es anschließend bereust, bist du wie eine Hure, der die Tränen kommen, nachdem sie kassiert hat. Ein guter Killer muss jedoch alles um sich herum vergessen und sich ganz auf seine Kugel konzentrieren. Okay, die Zielscheibe bewegt sich. Aber es ist nur eine Zielscheibe. Wenn du anfängst, darüber nachzudenken, ob sie vielleicht Familie hat, schießt du garantiert daneben. Und das macht es für die Zielscheibe nur noch schlimmer: Da sie nun mal dran glauben muss, stirbt sie entweder einen langsamen, qualvollen Tod, oder du musst ihr noch eine zweite Kugel in den Kopf jagen. Nein, das Beste ist, sich nicht ablenken zu lassen, zu zielen und es kurz und schmerzlos zu machen.«
    »Und wo liegt mein Schwachpunkt?«, fragte ich ihn einmal.
    »Du hast keinen, mein Junge, das ist ja das Schlimme. Du triffst eine Fliege noch auf hundert Meter Entfernung mitten in die Eier. Aber ich sehe dein Gesicht, kurz bevor du abdrückst. In dem Moment bist du nicht mehr du selbst, so als würde der Finger am Abzug einem anderen gehören. Und das kann böse enden, Nummer Dreiunddreißig. Man kann nicht schwimmen, ohne sich nass zu machen. Du zielst, denkst, gleich wird er umkippen und nicht wieder aufstehen, und schießt. Und er fällt tot um. So einfach ist das.«
    Wenn man ein anderer sein will als der, der man ist, oder wieder der werden will, der man einmal hätte sein können, zieht man am besten in eine fremde Stadt. Bereits zwei Monate nachdem ich Leticia kennengelernt hatte, lebte ich in Madrid und hatte mich für Medizin eingeschrieben. Es war ganz einfach. Auf einmal war ich wieder der brillante, von allen bewunderte junge Mann, den alle mochten: die Dozenten, die Kommilitonen, ja sogar Leticias Vater.
    »Dieser junge Mann wird es noch weit bringen«, sagte er zu seiner Tochter, als sie mich ihm vorstellte.
    Leticias Vater verschenkte kein Lob. Nie.
    Die Prüfungen am Ende des erstes Studienjahrs bestand ich mit guten Noten. Ich wollte gerne glauben, dass die Medizin mein Ding war. Dass ich dazu geboren war.
    »Manche Menschen sind einfach dazu bestimmt, Menschenleben zu retten, und du bist einer davon«, sagte Leticias Vater damals.
    Wenn der wüsste.
    Im zweiten Jahr setzte sich mein vielversprechender Start fort, und Leticias Vater legte uns nahe, zu heiraten; dann könne er auch das Studium seines Schwiegersohns finanzieren, meinte er, es sei nämlich ein Jammer, dass ein so brillanter Kopf nebenher jobben müsse, anstatt sich auf seine Karriere zu konzentrieren.
    »Betrachte es als Investition«, sagte er und klopfte mir väterlich auf die Schultern.
    Das dritte und vierte Jahr absolvierte ich daraufhin mit Auszeichnung, im fünften – unsere Tochter war soeben zur Welt gekommen – ging ich jedoch von der Fakultät ab und begann als Vertreter für ein großes Pharmaunternehmen zu arbeiten. Und das, obwohl ich eigentlich vorgehabt hatte, mich hinter mein Studium zu klemmen und mich vorzeitig zu den Prüfungen der höheren Semester anzumelden.
    Mein Entschluss kam für alle völlig unerwartet. Leticia suchte in meinen Augen zwar noch nach dem Piratenkapitän, in den sie sich fünf Jahre zuvor verliebt hatte, doch vergeblich – von heute auf morgen war aus dem Überflieger wieder der unscheinbare Durchschnittstyp geworden, dem die Supermami heute Mittag im Fahrstuhl gegenübergestanden hat.
    Seit dem unglücklichen Zweikampf hinter der Schule waren zehn Jahre vergangen.
    Ich hatte Tony in der medizinischen Fakultät wiedergetroffen.
    Er trug eine Klappe über dem Auge.
    Ich hätte schwören können, dass es noch immer dieselbe Klappe war.
    »Dein Problem ist, dass du gern schwimmst, dich dabei aber nicht nass machen willst«, sagte die ehemalige Nummer Drei immer zu mir. »Du bist der einzige Mörder, den ich kenne, der noch Scham besitzt. Nur ist die völlig fehl am Platz, mein Junge, denn unser Geschäft ist der Tod. Und dabei geht es unweigerlich um die nackte Existenz, genau wie im Leben.«
    Ich hatte ihn gerngehabt, die alte Nummer Drei. Aber wenn ich ihn nicht damals, als es mir befohlen wurde, umgebracht hätte, müsste ich es jetzt tun.
    Damit er endlich aufhört, sich über mich lustig zu machen.
    Denn wir sind am Ziel, bald wird es hell,
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