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Wir sind die Nacht

Wir sind die Nacht

Titel: Wir sind die Nacht
Autoren: Hohlbein Wolfgang
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ich recht? Obwohl es um so vieles wertvoller ist.«
    Lena wollte nicht darauf antworten, aber sie tat es trotzdem. »Warum? Nur weil es länger dauert?«
    »Nein.« Louise sah Lena und Tom abwechselnd auf eine sonderbare Art an, dann seufzte sie tief und hob den linken Arm, um auf die Uhr zu sehen. »Noch gute sechs Stunden«, sagte sie.
    »Und was passiert dann?«
    »Dann kommt der Hubschrauber, der uns zum Flughafen bringt«, antwortete Louise. »So lange gebe ich dir Zeit, dich zu entscheiden.«
    Sie sagte nicht, wozu, und Lena fragte auch nicht.

38
    Es war die längste Nacht ihres Lebens gewesen. Die Minuten hatten kein Ende genommen, und die Stunden hatten sich zu etwas aneinandergereiht, wofür das Wort Ewigkeiten nicht mehr ausreichte. Tom war nahezu die ganze Zeit über bewusstlos gewesen, und Lena war nicht eine Sekunde von seiner Seite gewichen. Zwei-, dreimal hatte er stöhnend die Augen geöffnet und sie angeblinzelt, aber sie war sich sicher, dass er sie nicht erkannt hatte, und seine Sinne hatten ihn auch jedes Mal beinahe sofort wieder verlassen. Vielleicht war er doch schwerer verletzt, als sie geglaubt hatte. Mit ein wenig Glück hatte er nur eine Gehirnerschütterung … aber vielleicht starb er ja auch. Lena ahnte, dass Louise ihr diese Frage vermutlich beantworten konnte, aber sie hatte es nicht gewagt, sie ihr auch zu stellen.
    Überhaupt hatten sie in den zurückliegenden Stunden kaum ein Wort miteinander gewechselt. Lummer hatte ein paarmal versucht, ein Gespräch mit Louise zu beginnen (das nahezu ausschließlich aus wüsten Beschimpfungen bestand), und war dann ebenfalls in dumpfes Brüten versunken, nachdem sie ihm ernsthaft angedroht hatte, ihn zu knebeln, wenn er nicht sofort die Klappe hielt - oder ihm auch die Zunge abzubeißen, je nachdem was ihm lieber war.
    Jetzt aber neigte sich diese endlose Nacht dem Ende zu. Vor den UV-gehärteten Scheiben war bereits das erste Grau der Dämmerung heraufgezogen, und Louise stand schon seit nahezu
einer halben Stunde am Fenster und sah in den Park hinab, als könnte sie den Helikopter mit purer Willenskraft herbeizwingen.
    Lena hatte vor nichts mehr Angst als vor genau diesem Augenblick.
    Sobald die Maschine landete, würde sie sich entscheiden müssen, ob sie mit ihr ging oder bei Tom blieb. Auch wenn sie sich tief im Innersten längst entschieden hatte, empfand sie zugleich so etwas wie vorweggenommene Panik, wenn sie an den Moment dachte, in dem sie aus diesem Entschluss Realität machen musste. Louise hatte völlig recht gehabt: Sie war mehr als bereit, ihr eigenes Leben in die Waagschale zu werfen, um seines zu retten - aber da war zugleich auch ein kleiner, hässlicher Zweifel in ihr, eine Stimme, die sie ebenso leise wie hartnäckig fragte, ob sie diese Wahl überhaupt noch hatte. Tom war immer noch nicht wach geworden. Sein Puls ging gleichmäßig, war aber schwach, und dann und wann kam ein halblautes Seufzen über seine Lippen. Was, wenn er starb?
    Was, wenn sie ihn tötete?
    Erschrocken über ihren eigenen Gedanken, lauschte sie in sich hinein. Das Gefühl unbezwingbarer Stärke, das Charlottes Blut ihr gegeben hatte, war verschwunden und hatte einer perversen Art von mattem Wohlbefinden Platz gemacht, aber sie wusste, dass auch das nicht mehr lange so bleiben würde. Bald, spätestens morgen, würde der Hunger zurückkehren und nicht sehr viel später die Gier.
    Und dann?
    »Er kommt«, sagte Louise, ohne sich von ihrem Beobachtungsposten am Fenster wegzudrehen. Lena versuchte an ihr vorbei einen Blick in den Himmel zu erhaschen, aber umsonst.
    »Kannst du nichts für ihn tun?«, fragte sie. »Ich weiß, dass du das kannst. Du hast mir auch schon Kraft gegeben.«
    Louise blies eine graue Rauchwolke gegen die Scheibe und
sah scheinbar interessiert dabei zu, wie sie daran zerbarst, bevor sie schließlich antwortete. »Nur für den Fall, dass es dir noch nicht aufgefallen ist, Liebes: Da gibt es einen Unterschied zwischen dir und ihm. Und der liegt nicht nur zwischen euren Beinen.«
    »Aber du kannst es«, beharrte Lena. »Wir können nicht nur Leben nehmen, habe ich recht?«
    Louise schwieg, aber das war auch Antwort genug.
    »Bitte hilf ihm«, sagte Lena.
    Wieder schwieg Louise für die Zeit, die eine weitere Qualmwolke brauchte, um an der Fensterscheibe zu zerspellen. »Du verlangst eine Menge von mir, Kleines«, sagte sie. Da war plötzlich ein Geräusch, das ihre Worte zu begleiten schien. Etwas, was nicht hierher gehörte. Lena
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