Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Wir nannten ihn Galgenstrick

Titel: Wir nannten ihn Galgenstrick
Autoren: Unbekannter Autor
Vom Netzwerk:
sülzeartige Masse, die man mit der Hand hätte wegschieben können, um den Freitag zu erreichen. Männer und Frauen waren nicht mehr zu unterscheiden. Meine Stiefmutter, mein Vater, die Arbeiter waren fettleibige, unwahrscheinliche Körper, die sich im Morast des Winters bewegten. Mein Vater sagte: »Rühr dich nicht von der Stelle, bis ich dir sage, was zu tun ist«, und seine Stimme kam fern und auf Umwegen und schien weniger mit dem Gehör zu erfassen zu sein als mit dem Tastsinn, dem einzigen noch funktionierenden Sinn.
    Aber mein Vater kehrte nicht wieder: er verirrte sich in der Zeit. Als daher die Nacht kam, rief ich meine Stiefmutter und bat sie, mich ins Schlafzimmer zu begleiten. Ich schlief friedlich, ruhig die ganze Nacht hindurch. Am nächsten Tag blieb die Atmosphäre die gleiche, farblos, geruchlos, temperaturlos. Sobald ich erwachte, sprang ich auf einen Stuhl und verharrte reglos, denn etwas sagte mir, eine Zone meines Bewußtseins sei noch nicht völlig erwacht. Nun hörte ich den Pfiff des Zugs. Den gedehnten, trostlosen Pfiff des vor dem Unwetter fliehenden Zugs. »Irgendwo muß es aufgehört haben«, dachte ich, und eine Stimme hinter mir schien meinen Gedanken zu antworten: »Wo ...« - »Wer ist da?« sagte ich und blickte mich um. Ich sah meine Stiefmutter, die einen langen knochigen Arm zur Wand streckte. »Ich bin’s«, sagte sie. Und ich sagte: »Hörst du sie?« Sie sagte ja, vielleicht hätte es in der Umgebung aufgehört und sie hätten den Schienenstrang ausgebessert. Sie reichte mir ein Tablett mit dem dampfenden Frühstück. Es roch nach Knoblauchsauce und heißer Butter. Es war ein Suppengericht. Fassungslos fragte ich meine Stiefmutter nach der Zeit. Seelenruhig, mit einer nach hilfloser Entsagung klingenden Stimme sagte sie: »Es muß etwa halb drei sein. Der Zug hat nicht mal Verspätung.« Ich sagte: »Halb drei! Wie habe ich so lange schlafen können!« Und sie: »Du hast nicht lange geschlafen. Es ist höchstens drei.« Und ich, während ich den Teller meinen zitternden Händen entgleiten fühlte: »Freitag halb drei .« Und sie, ungeheuer ruhig: »Donnerstag halb drei, Kind. Noch  immer Donnerstag halb drei.«
    Ich weiß nicht, wie lange ich versunken war in jenem Schlafwandel, in dem alle Sinne ihren Wert verloren. Ich weiß nur, daß ich nach vielen zahllosen Stunden eine Stimme im Nachbarzimmer hörte. Eine Stimme, die sagte: »Jetzt kannst du das Bett hierher rücken.« Es war eine müde Stimme, doch nicht die einer Kranken, sondern einer Genesenden. Dann hörte ich das Geräusch der Backsteine im Wasser. Ich blieb steif, bevor ich merkte, daß ich mich in waagerechter Lage befand. Nun fühlte ich die riesige Leere. Ich fühlte die bebende gewaltsame Stille des Hauses, die unglaubliche Reglosigkeit, die auf alle Dinge überging. Und plötzlich fühlte ich mein Herz in einen eisigen Stein verwandelt. »Ich bin tot«, dachte ich. »Gott, ich bin tot.« Ich fuhr im Bett auf, schrie: »Ada, Ada!« Martins tonlose Stimme antwortete mir von der anderen Seite: »Sie können doch nicht hören, weil sie draußen sind.« Erst jetzt merkte ich, daß es aufgehört hatte und daß sich um uns eine Stille verbreitete, eine Ruhe, eine geheimnisvoll tiefe Glückseligkeit, ein vollkommener Zustand, der dem Tod sehr ähnlich sein mußte. Dann hörte man Stimmen im Gang. Man hörte eine helle, sehr lebendige Stimme. Gleich darauf rüttelte ein frischer Windstoß an der Tür, brachte das Schloß zum Kreischen, und ein fester, jäh aufleuchtender Körper wie eine reife Frucht fiel tief in den Brunnen des Innenhofs. Etwas in der Luft verriet die Gegenwart eines unsichtbaren Menschen, der im Dunkeln lächelte. Mein Gott, dachte ich, verstört von der Wirrnis der Zeit. Jetzt würde ich mich nicht wundern, wenn sie mich zur Messe vom vergangenen Sonntag riefen.

Nachwort
    Zwischen 1947 und 1955 hat Gabriel García Márquez ein Dutzend Kurzgeschichten geschrieben, die ersten fünf in Bogota, die übrigen in Cartagena und Barranquilla, er hat sie aber erst 1976, ein Jahr nach dem Erscheinungsjahr von Der Herbst des Patriarchen, in einem von ihm selbst zusammengestellten Sammelband vorgelegt: Ojos de perro azul - Augen eines blauen Hundes -; die deutsche Ausgabe hat als Titel A noche de los alcaravanes - Die Nacht der Rohrdommeln - gewählt, Isabels Monolog erschien in der Zeitschrift Mito, Die Nacht der Rohrdommeln in Crítica, die übrigen in der Sonntagsbeilage der Tageszeitung El Espectador,
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher