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Wir nannten ihn Galgenstrick

Titel: Wir nannten ihn Galgenstrick
Autoren: Unbekannter Autor
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seinem Sarg, bereit, beerdigt zu werden, und wußte trotzdem, daß er nicht tot war. Hätte er sich aufrichten wollen, er hätte es mit aller Leichtigkeit zu tun vermocht. Zumindest »geistig«. Doch es lohnte nicht die Mühe. Es war besser, sich hier sterben zu lassen; am »Tode« zu sterben, der seine Krankheit war. Vor geraumer Zeit hatte der Arzt zu seiner Mutter einsilbig gesagt: »Señora, Ihr Kind hat eine schwere Krankheit: es ist tot. Trotzdem«, fuhr er fort, »werden wir alles tun, um ihm über seinen Tod hinaus das Leben zu bewahren. Wir werden es fertigbringen, daß seine Organe mittels eines komplizierten Systems der Selbsternährung weiterfunktionieren. Nur die Triebfunktionen, die unmittelbaren Bewegungen werden unterschiedlich arbeiten. Wir werden über sein Leben durch das Wachstum erfahren, das gleichfalls normal weitergehen wird. Es wird einfach >sein lebendiger Tod< sein. Ein wirklicher und wahrhaftiger Tod ...«
    Er erinnerte sich an die Worte, wenn auch wirr. Vielleicht hatte er sie nie gehört, und das Ganze war ein Auswuchs seiner Phantasie, als das Fieber während seiner Typhuserkrankung stieg.
    Als er delirierte. Als er die Geschichte von den einbalsamierten Pharaonen las. Als das Fieber stieg, fühlte er sich selbst als deren Protagonist. Eine Art Leere war in sein Leben getreten. Seither vermochte er nicht mehr zu unterscheiden, sich nicht mehr zu erinnern, welche Ereignisse Teil seines Deliriums und welche Teil seines wirklichen Lebens waren Daher zweifelte er jetzt. Vielleicht hatte der Arzt nie von diesem seltsamen »lebendigen Tod« gesprochen. Er ist unlogisch, widersprüchlich, regelrecht widersinnig. Und das ließ ihn jetzt vermuten, daß er in Wahrheit tatsächlich tot war. Daß er es seit achtzehn Jahren war.
    Schon damals - zur Zeit seines Todes war er sieben Jahre alt - ließ seine Mutter ihm einen kleinen Sarg herstellen, aus frischem Holz, einen Sarg für ein Kind; doch der Arzt gab die Anweisung, es solle eine größere Totenkiste gezimmert werden, eine Kiste für einen normalen Erwachsenen, denn jene kleine könne das Wachstum hemmen, und er könnte so ein deformierter Toter werden oder ein anormaler Lebender. Oder das Aufhalten des Wachstums könnte verhindern, eine Besserung festzustellen. Angesichts dieser Warnung ließ seine Mutter einen großen Sarg für ihn bauen, für einen erwachsenen Leichnam, und legte drei Kissen an das Fußende, damit er besser hineinpaßte.
    Und schon begann er in dem Sarg zu wachsen, so daß man jedes Jahr etwas Wolle aus dem äußersten Kissen nehmen konnte, um ihm das Wachsen zu erleichtern. So war ein halbes Leben vergangen. Achtzehn Jahre. (Jetzt war er fünfundzwanzig Jahre alt.) Und hatte seine endgültige, normale Statur erreicht. Der Tischler und der Arzt hatten sich in ihrer Berechnung geirrt und den Sarg um einen halben Meter zu groß gemacht. Sie hatten vermutet, er würde die Statur seines Vaters bekommen, der ein halbbarbarischer Riese war. Doch das wurde er nicht. Das einzige, was er von ihm geerbt hatte, war der Vollbart. Ein blauer Bart, dicht, den seine Mutter ihm kämmte, damit er anständig in seinem Sarg lag. Dieser Bart belästigte ihn schrecklich an heißen Tagen.
    Doch da war etwas, was ihn mehr als »dieser Lärm« beschäftigte. Das waren die Mäuse. Nichts hatte ihn, als er Kind war, auf der Welt so sehr beschäftigt, hatte ihm solch einen Schrecken eingejagt wie die Mäuse. Und genau diese widerlichen Tiere ließen sich von den Kerzen anlocken, die zu seinen Füßen brannten. Sie hatten bereits seine Kleidung zernagt, und er wußte, sie würden sehr bald beginnen, ihn zu benagen, seinen Körper aufzufressen. Eines Tages konnte er sie sehen: es waren fünf glänzende, glatte Mäuse, die am Tischbein zu seiner Totenkiste hochkletterten und sich über ihn hermachten. Sobald seine Mutter es merken würde, wären von ihm nur noch Trümmer übrig, die harten, kalten Knochen. Was ihm den größten Schrecken einjagte, war nicht gerade, daß die Mäuse ihn auffraßen. Schließlich und endlich würde er mit seinem Gerippe weiterleben können. Was ihn quälte, war das ihm angeborene Entsetzen, das er vor diesen Tierchen empfand. Das Haar stand ihm zu Berge, sobald er an diese samtigen Wesen dachte, die über seinen ganzen Leib wuselten, die in seine Hautfalten eindrangen und mit ihren eisigen Pfoten über seine Lippen strichen. Eine von ihnen kroch sogar bis zu seinen Lidern herauf und versuchte seine Hornhaut zu benagen. Er
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