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Wir nannten ihn Galgenstrick

Titel: Wir nannten ihn Galgenstrick
Autoren: Unbekannter Autor
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die Stengel faulten. Oder vielleicht zersetzte sich jetzt die Maus, welche die Katze ins Zimmer geschleppt hatte, in der Hitze. Nein. Der »Geruch« konnte nicht von seinem Körper stammen.
    Vor wenigen Augenblicken war er noch glücklich mit seinem Tod gewesen, weil er tot zu sein glaubte. Weil ein Toter in seiner nicht wiedergutzumachenden Lage glücklich sein kann. Doch ein Lebender kann sich nicht damit abfinden, lebendig begraben zu werden. Übrigens antworteten seine Glieder nicht auf seinen Anruf. Er konnte sich nicht ausdrücken; und das verursachte ihm Entsetzen; das größte Entsetzen seines Lebens und seines Todes. Man würde ihn lebend begraben. Er würde das fühlen. Sich dessen bewußt werden in dem Augenblick, da die Totenkiste zugenagelt werden würde. Er würde die Leere seines Körpers auf den Schultern seiner Freunde spüren, während seine Angst und seine Verzweiflung bei jedem Schritt des Leichenzugs wachsen würden.
    Vergeblich wird er versuchen, sich aufzuraffen, mit allen versagenden Kräften zu rufen, gegen die Wände des finsteren, engen Sargs zu schlagen, damit die Leute erführen, daß er noch am Leben war, daß man ihn lebend beerdigen würde. Es würde nutzlos sein; auch dann würden seine Glieder nicht auf den dringenden letzten Ruf seines Nervensystems antworten.
    Er hörte Geräusche im Nebenzimmer. Sollte er schlafen ? Sollte all sein Totenleben ein Alptraum gewesen sein? Doch das Klappern von Geschirr hörte auf. Er wurde traurig und daher vielleicht verstimmt. Er hätte gewünscht, daß alles Geschirr der Erde auf einmal zerschlagen würde, gleich nebenan, um durch einen äußeren Anlaß zu erwachen, da sein Wille versagt hatte.
    Aber nein. Es war kein Traum. Er war sicher, daß, wäre es ein Traum gewesen, sein letzter Versuch, in die Wirklichkeit zurückzukehren, nicht gescheitert wäre. Er würde nie mehr erwachen. Er fühlte das Weiche des Sargs, und der »Geruch« war jetzt mit größerer Stärke, mit soviel Stärke wiedergekehrt, daß er bereits daran zweifelte, daß es sein eigener Geruch war. Er hätte jetzt gerne seine Angehörigen gesehen, bevor er begann, in Verwesung überzugehen und das Schauspiel des faulenden Fleischs Ekel in ihnen auslöste. Die Nachbarn würden entsetzt vor der Bahre fliehen, ein Taschentuch vor dem Mund. Sie würden erbrechen. Nein. Das nicht. Es war besser, wenn sie ihn begruben. Es war vorzuziehen, »dies« so rasch wie möglich loszuwerden. Er selbst wollte jetzt seinen eigenen Leichnam lossein. Nun wußte er, daß er wahrhaftig tot war oder zumindest kaum wahrnehmbar lebendig. Es kam aufs gleiche heraus. Auf alle Fälle hielt der »Geruch« an.
    Entsagend würde er die letzten Gebete hören, die letzten lateinischen Brocken, von den Akoluthen falsch beantwortet. Die mit Staub und Knochen angefüllte Kälte des Friedhofs wird bis in seine Knochen dringen und vielleicht diesen »Geruch« ein wenig vertreiben. Vielleicht - wer weiß - wird der drohende Augenblick ihn aus seiner Lethargie lösen. Wenn er fühlt, daß er im eigenen Schweiß schwimmt, in einem schleimigen, zähflüssigen Wasser, so wie er vor seiner Geburt in der Gebärmutter seiner Mutter schwamm. Vielleicht lebt er dann.
    Doch dann hat er sich bereits so sehr mit dem Sterben abgefunden, daß er vielleicht aus Entsagung stirbt.

Die andere Rippe des Todes
    1948
     
    Ohne zu wissen warum, fuhr er aus dem Schlaf auf. Kräftig und gebläht drang scharfer Veilchen- und Formaldehydgeruch aus dem Nebenzimmer herein und vermengte sich mit dem Duft jüngst erblühter Blumen, den der erwachende Garten hereinsandte. Er versuchte sich zu beruhigen, die Fassung wiederzugewinnen, die er plötzlich im Schlaf verloren hatte. Der Tag mußte bereits grauen, denn draußen im Garten hatte der Wassersprenkler auf dem Gemüse zu singen begonnen, und der Himmel war blau im geöffneten Fenster. Er ließ den Blick durch das dämmrige Zimmer gleiten und versuchte sich sein plötzliches, erwartetes Erwachen zu erklären. Er hatte den Eindruck, die physische Gewißheit, daß jemand eingetreten war, während er schlief. Trotzdem war er allein, und die von innen verschlossene Tür verriet keine Zeichen von Vergewaltigung. Über der Luft des Fensters erwachte ein Morgenstern. Er verharrte einen Augenblick still, als versuche er, die nervöse Spannung, die ihn an die Oberfläche des Schlafs getrieben hatte, zu lockern, und, auf dem Rücken liegend, die Augen schließend, suchte er von neuem den gerissenen Faden
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