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Wir nannten ihn Galgenstrick

Titel: Wir nannten ihn Galgenstrick
Autoren: Unbekannter Autor
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seines ersten, völlig gelungenen Romans: Der Oberst hat niemand, der ihm schreibt.
    Freilich, der Tod ist in Garcia Márquez’ ganzem Werk gegenwärtig, doch nie so drangvoll und überwiegend wie in seinen ersten Arbeiten. In Die dritte Entsagung bebt das Entsetzen vor dem Tod. Das Kind wächst achtzehn Jahre in seinem Sarg: die leichtgewichtige Handlung zerfällt in den Wahrnehmungen des Toten. Die Sprache ist unpersönlich, der Satzbau gewunden. Übrigens kehrt das Thema, die Geschichte einer Leiche, in Das Leichenbegängnis der Großen Mama, auch im Herbst des Patriarchen wieder; die Idee, daß man mitten im Tode sterben kann, begegnet uns in den verschiedenen Toden von Melchiades und Prudencio Aguilar von Hundert Jahre Einsamkeit.
    Eva ist in ihrer Katze kommt dem Wesen der ersten Erzählung sehr nahe, die Protagonistin könnte eine blasse Vorläuferin von Remedios sein. Sie »lebt« in Finsternis und ist allgegenwärtig, im »wirklichen« Leben und zugleich im anderen, dem Tod. Die andere Rippe des Todes, versetzt mit Angst und schwarzem Humor, beginnt surreal, als Perspektive eines Menschen im Morgengrauen zwischen Wachen und Träumen.
    Zwiesprache des Spiegels setzt Die andere Rippe auf ebenso stofflose Weise wie die vorhergegangene fort; hier scheint Faulkner Pate gestanden zu sein.
    Bitterkeit für drei Schlafwandler bildet eine Art Übergang vom Abstrakten zum Konkreten der fiktiven Wirklichkeit. Drei Erzähler rufen die Gegenwart eines Mädchens wach, die aus dem zweiten Stock in einen Innenhof gestürzt ist, umgeben von einer Atmosphäre aus Geheimnis und Bedrohung. Augen eines blauen Hundes, die einfallreiche Erzählung einer schwierigen Traumbeziehung zwischen Mann und Frau, ist die im Aufbau wohl unentschlossenste von allen Erstlingen des Autors. Sieht die Frau wirklich den Erzähler in der »Wirklichkeit«? Daher scheint uns in dieser
    Gesellschaft Nabo wichtig. Hier, wie in Bitterkeit, erscheint, Widerhall aus Faulkners »tiefem Süden«, ein stummes Geschöpf, das Grammophonmusik hört, nicht gehen kann und niemanden erkennt, betreut von Nabo, dessen beschädigtes Bewußtsein von keiner Vergangenheit weiß und nur den Hufschlag des Pferdes, seine einzige Erinnerung, umkreist. Diese Geschichte ist überzeugend erzählt, und Nabos Eingeschlossenheit deutet voraus auf den Arzt in Laubsturm.
    In Jemand bringt diese Rosen in Unordnung tritt wieder ein Invalide auf den Plan wie in Bitterkeit und Nabo, diesmal ein toter Knabe. Auch der Erzähler ist tot: »Da Sonntag ist und es aufgehört hat zu regnen, denke ich daran, einen Strauß Rosen auf mein Grab zu legen.« Diese vielleicht am besten konstruierte Erzählung hat eine vage Verwandtschaft mit Laubsturm und seinem Erzähler-Enkel.
    Die Nacht der Rohrdommeln stellt gewissermaßen die Grenze zwischen Vorgeschichte und Geschichte der fiktiven Realität dar. Sie fußt auf einem Volksglauben der Atlantikküste: daß nämlich die Rohrdommeln dem die Augen ausstechen, der ihren Gesang nachahmt. Die Welt der drei Männer, fortan nur mehr durch Erinnerung, Geruchs- und Tastsinn wahrzunehmen und zu bewältigen, wird fast nur im Dialog sichtbar.
    Aus dem Rahmen dieses Bandes fällt Die Frau, die um sechs kam, eine nahezu reine Dialogerzählung der objektiv erlebbaren Welt mit einem greifbaren Drama zwischen Mann und Frau, das den Leser zur Teilnahme und Kritik aufruft. lsabels Monolog beim Betrachten des Regens in Macondo schließlich, eine in Anthologien Lateinamerikas und Europas vertretene Erzählung, leitet über zu GGMs eigentlichem Werk, seiner Macondo-Welt. Der Autor hat sie aus Laubsturm, von dem sie ein Teil war, herausgelöst.
    Hier klingen auf einen Schlag alle Motive von GGMs erstem Roman an: Regen als Aktion - in Hundert Jahre Einsamkeit wird es vier Jahre ununterbrochen regnen -, Hitze, Fäulnis, Einsamkeit, Verfall - physisch, historisch, moralisch. Noch herrscht der Monolog als bestes Werkzeug, innere Erfahrungen auszudrücken. Unter Garcia Márquez’ in deutscher Sprache erschienenen Büchern dürfen seine ersten Erzählungen nicht fehlen, besonders nicht für Leser, die seine Meisterwerke kennen. Denn gerade für diese ist es informierend und ermutigend zu sehen, wie dieser Schriftsteller sich von innen nach außen vortastet, wie er geduldig und genau seine Grenzen abschreitet und das eigene Neuland erforscht, um schließlich seinen Kosmos mit sicherer Hand auszubreiten.
    Curt Meyer-Clason
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