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Wir nannten ihn Galgenstrick

Titel: Wir nannten ihn Galgenstrick
Autoren: Unbekannter Autor
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aufgestellt und alle drei Monate erneuert worden waren, begannen wieder herunterzubrennen, und zwar in dem Augenblick, als sie unerläßlich sein würden. Er spürte die nahe Frische der feuchten Veilchen, die seine Mutter an jenem Morgen gebracht hatte. Er spürte sie in den Lilien, in den Rosen. Doch diese ganze schreckliche Wirklichkeit verursachte in ihm keinerlei Unruhe; im Gegenteil, er war dort glücklich, allein mit seiner Einsamkeit. Würde er nachher Angst empfinden?
    Wer weiß. Nachdenken fiel schwer in dem Augenblick, da der Hammer die Nägel in das grüne Holz einschlug und der Sarg unter der sicheren Hoffnung ächzte, wieder Baum zu werden. Sein Körper, vom Befehl der Erde mit größerer Kraft angezogen, würde in feuchtem, lehmigen, weichen Grund auf der Seite liegen, und dort oben, über vier Kubikmetern, würden die letzten Schläge der Totengräber verhallen. Nein. Auch dort würde er keine Angst spüren. Das würde die Verlängerung seines Todes sein, die natürlichste Verlängerung seines neuen Zustands.
    Kein Grad Wärme würde in seinem Körper mehr bleiben, sein Mark würde für immer erkaltet sein, und ein paar Eissternchen würden bis in sein Knochenmark vordringen. Wie gut würde er sich an sein neues Totenleben gewöhnen! Und dennoch wird er eines Tages seine festgefügte Rüstung zusammenbrechen fühlen; und wenn er versuchen sollte, seine Glieder einzeln aufzuzählen, aufzurufen, wird er sie nicht wiederfinden. Er wird fühlen, daß er keine festumrissene Form mehr hat, und entsagend feststellen, daß er die vollkommene Anatomie seiner fünfundzwanzig Jahre verloren und daß er sich in eine Handvoll Staub ohne Formen, ohne geometrische Konturen verwandelt hat.
    In den biblischen Staub des Todes. Vielleicht empfand er jetzt eine leichte Sehnsucht; Sehnsucht, weil er kein formaler, anatomischer Leichnam war, sondern ein imaginärer, abstrakter Leichnam, der nur in der verschwommenen Erinnerung seiner Angehörigen Bestand hatte. Jetzt wird er wissen, daß er durch die Kapillargefäße eines Apfelbaums aufsteigen und durch den hungrigen Biß eines Jungen an einem Herbstmorgen erwachen wird. Jetzt wird er wissen - und das machte ihn traurig -, daß er seine Einheit verloren hat: daß er nicht einmal mehr ein gewöhnlicher Toter, ein alltäglicher Leichnam ist.
    Die letzte Nacht hatte er in der einsamen Gesellschaft seines eigenen Leichnams glücklich verbracht.
    Doch mit dem neuen Tag, beim Eindringen der ersten lauen Sonnenstrahlen durch das geöffnete Fenster, fühlte er, daß seine Haut weich geworden war. Er beobachtete sich einen Augenblick. Still, starr. Ließ die Luft über seinen Körper streichen. Er konnte nicht zweifeln: da war der »Geruch«. Während der Nacht hatte das Leichengift zu wirken begonnen. Sein Organismus hatte begonnen, sich zu zersetzen, in Fäulnis überzugehen wie der Körper aller Toten. Der »Geruch« war fraglos der unverkennbare Geruch abgestandenen Fleischs, der untertauchte und dann umso hartnäckiger wieder auftauchte. Sein Körper hatte sich in der Hitze der vorigen Nacht zersetzt. Ja. Er faulte. Binnen weniger Stunden würde seine Mutter kommen und die Blumen auswechseln, und von der Schwelle würde ihr der Pesthauch zersetzten Fleischs entgegenschlagen. Dann würde man ihn fortschaffen, damit er seinen zweiten Tod zwischen den anderen Toten schliefe.
    Doch plötzlich versetzte die Angst ihm einen Stich in den Rücken. Die Angst! Was für ein tiefes, ein bedeutsames Wort! Jetzt hatte er Angst, eine »körperliche«, echte Angst. Welchem Umstand verdankte er sie? Er verstand sie vollkommen, sein Fleisch erbebte: wahrscheinlich war er nicht tot. Man hatte ihn in diese Totenkiste gesteckt, und die fühlte er jetzt ganz und gar, weich, gepolstert, schrecklich bequem; und das Gespenst der Angst stieß ihm das Fenster zur Wirklichkeit auf: Man wollte ihn lebend begraben!
    Er konnte nicht tot sein, denn er war sich all dessen bewußt; des Lebens, das rings um ihn kreiste, summte. Des lauen Dufts des Heliotrops, der durchs offene Fenster drang und sich mit dem anderen »Geruch« vermengte. Er war sich genau des langsamen Absinkens des Wassers im Tank bewußt. Der Zikade, die in der Ecke weitersang und wohl glaubte, das Morgengrauen dauere noch.
    All das leugnete seinen Tod. Alles, ausgenommen der »Geruch«. Doch wie konnte er wissen, ob dieser Geruch der seine war? Vielleicht hatte seine Mutter am Vortag vergessen, das Wasser in den Vasen zu wechseln, so daß
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