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Wir nannten ihn Galgenstrick

Titel: Wir nannten ihn Galgenstrick
Autoren: Unbekannter Autor
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betörendem Schweigen man nichts hört als das tausendjährige Geräusch der Erde, die sich um ihre rostige ungeölte Achse dreht. Plötzlich fühlte ich mich von bedrückender Wehmut überwältigt.
    Es regnete den ganzen Montag, wie am Sonntag. Doch nun schien es, als regnete es auf andere Weise, weil etwas Neues, Bitteres in meinem Herzen geschah. Gegen Abend sagte eine Stimme neben meinem Stuhl: »Langweilig, dieser Regen.« Ohne mich umzublicken, erkannte ich Martins Stimme. Ich wußte, daß er auf dem Nachbarstuhl sprach, mit dem gleichen kalten benommenen Ausdruck, der sich seit jenem düsteren Morgengrauen im Dezember, als er mein Mann wurde, nicht einmal geändert hatte. Seitdem waren fünf Monate vergangen. Jetzt sollte ich ein Kind bekommen. Und Martin saß neben mir und sagte, der Regen sei langweilig. »Langweilig nicht«, sagte ich. »Was ich einfach trostlos finde, ist der leere Garten und die armen Bäume, die man nicht aus dem Innenhof nehmen kann.« Dann blickte ich mich nach ihm um, aber Martin war nicht mehr da. Nur eine Stimme, die zu mir sagte: »Es scheint nie mehr aufhören zu wollen«, und als ich nach der Stimme blickte, fand ich nur den leeren Stuhl.
    Dienstag morgen war eine Kuh im Garten. Sie sah aus wie ein Kreidefelsvorsprung, in ihrer harten, widerspenstigen Unbeweglichkeit, die Hufe im Lehm versunken und den Kopf vornüber gefallen. Während des Vormittags versuchten die Guajiros sie mit Stecken und Backsteinen zu vertreiben. Aber die Kuh blieb unerschütterlich im Garten, hart, unverletzlich, die Hufe nach wie vor im Lehm versunken und der riesige Kopf vom Regen erniedrigt. Die Guajiros setzten ihr zu, bis mein Vater mit seiner geduldigen Nachricht ihr zu Hilfe kam: »Laßt sie in Ruhe«, sagte er. »Sie wird abziehen, wie sie gekommen ist.«
    Dienstag gegen Abend drückte und schmerzte das Wasser wie ein Leichentuch ums Herz. Die Frische des ersten Morgens begann sich in heiße, zähe Feuchtigkeit zu verkehren. Die Temperatur war weder kalt noch warm; es war die Temperatur des Schüttelfrostes. Die Füße schwitzten in den Schuhen. Man wußte nicht, was unangenehmer war, die nackte Haut oder die Berührung der Haut mit den Kleidern. Im Hause hatte jede Tätigkeit aufgehört. Wir setzten uns auf die Terrasse, betrachteten aber nicht mehr den Regen wie am ersten Tag. Wir fühlten ihn nicht mehr fallen. Wir sahen nur noch die Umrisse der Bäume im Nebel, in einer traurigen, trostlosen Dämmerung, die auf den Lippen den gleichen Geschmack hinterließ, mit dem man erwacht, wenn man von einem Unbekannten geträumt hat. Ich wußte, daß Dienstag war, und erinnerte mich an die Zwillingsschwestern aus Sankt Hieronymus, die blinden Mädchen, die jede Woche ins Haus kommen und uns einfache Lieder vorsingen, traurig vom bitteren, wehrlosen Wunder ihrer Stimmen. Über das Regengeräusch hinweg hörte ich das Liedchen der blinden Zwillingsschwestern und stellte sie mir in ihrem Haus vor, zusammengekauert darauf wartend, daß der Regen aufhörte, damit sie ausgehen und singen könnten. An solch einem Tag würden weder die Zwillinge aus Sankt Hieronymus kommen, dachte ich, noch würde das Bettelweib nach dem Mittagsschlaf auf der Terrasse erscheinen und wie jeden Dienstag um das ewige Zweiglein Melisse bitten.
    An jenem Tag vergaßen wir die Reihenfolge der Mahlzeiten, Zur Stunde der Siesta trug meine Stiefmutter einen Teller einfache Suppe und ein Stück ranziges Brot auf. Aber in Wirklichkeit aßen wir seit Montagabend nicht mehr, und ich glaube, wir dachten seit diesem Zeitpunkt nicht mehr nach. Wir waren vom Regen gelähmt, betäubt, dem Zusammenbruch der Natur ausgeliefert in einer Haltung friedfertiger Entsagung. Nur die Kuh regte sich gegen Abend. Plötzlich schüttelte ein tiefes Geräusch ihre Eingeweide, und ihre Hufe gruben sich mit größerer Kraft in den Lehmboden. Dann blieb sie eine halbe Stunde lang reglos, als sei sie schon tot, doch konnte sie nicht fallen, denn die Gewohnheit, am Leben zu sein, hinderte sie daran, die Angewohnheit, in derselben Stellung im Regen zu verharren, bis die Gewohnheit schwächer war als der Körper. Nun bog sie die Vorderbeine, (stemmte mit letzter Kraftanstrengung die dunklen, glänzenden Flanken hoch), grub das sabbernde Maul in den Schlamm und ergab sich schließlich dem Gewicht ihrer eigenen Masse in einer schweigsamen, allmählichen und würdigen Zeremonie völligen Zusammenbruchs. »Soweit ist sie nun«, sagte jemand hinter mir. Ich drehte mich um
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