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Wir nannten ihn Galgenstrick

Titel: Wir nannten ihn Galgenstrick
Autoren: Unbekannter Autor
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abzuwarten. Sein Fleisch war weich und fetthaltig geworden, und er glaubte zu fühlen, daß ihn eine blaue Schicht ganz bedeckte. Er schnüffelte abwärts, in Erwartung seiner eigenen Körpergerüche, doch nur das Formol des Nachbarzimmers ließ seine Nasenflügel unmißverständlich und eisig erbeben. Dann beschäftigte ihn nichts mehr. In ihrem Winkel stimmte die Grille wiederum ihre Kantilene an, während ein dicker, genauer Tropfen aus dem freien Himmel ganz im Mittelpunkt des Raums durchzusickern begann. Er hörte ihn ohne Überraschung fallen, weil er wußte, daß an dieser Stelle das Holz alt und morsch war, doch stellte er sich jenen Tropfen von frischem, gutem, freundlichem Wasser gebildet vor, er kam vom Himmel, aus einem besseren Leben, von weiter her und nicht so vollgestopft mit derartig törichten Erscheinungen wie Liebe oder wie Verdauung und Zwillingsschaft. Vielleicht würde dieser Tropfen den Raum halb halb von einer Stunde füllen oder innerhalb von tausend Jahren und würde diesen tödlichen Panzer, diese eitle Substanz, die vielleicht - warum nicht? - binnen weniger Augenblicke nichts als ein teigiges Gemisch aus Albumin und Molke sein würde, auflösen. Nun war alles gleich. Zwischen ihm und seinem Grab stand nur noch sein eigener Tod. Entsagend hörte er den dicken, schweren, genauen Tropfen, der in jener anderen Welt schlug, in jener verfehlten und ungereimten Welt der mit Vernunft begabten Tiere.

Eva ist in ihrer Katze
    1948
     
    Plötzlich merkte sie, daß ihre Schönheit abgefallen war, daß diese sie körperlich schmerzte wie eine Geschwulst oder ein Krebsgeschwür. Sie erinnerte sich noch an die Last dieses Vorrechts, das sie während ihrer Jugend auf ihrem Körper getragen und das sie nun fallen gelassen hatte - wer weiß wohin -, mit entsagender Müdigkeit, mit der letzten Gebärde eines entarteten Tiers. Sie konnte diese Last unmöglich noch länger tragen. Sie mußte dieses nutzlose Eigenschaftswort ihrer Persönlichkeit irgendwo abwerfen; dieses Stück ihres eigenen Namens, das vom vielen Betonen überflüssig geworden war. Ja; sie mußte die Schönheit irgendwo zurücklassen; hinter einer Straßenecke, in einem Vorstadtwinkel. Oder sie am Kleiderständer eines zweitrangigen Restaurants wie einen alten unbrauchbaren Mantel aus Versehen hängen lassen. Sie war es müde, Mittelpunkt so vieler Aufmerksamkeiten zu sein, von den aufgerissenen Augen der Männer belagert zu leben. Abends, wenn sie die Nadeln der Schlaflosigkeit auf ihre Lider steckte, wäre sie gerne eine gewöhnliche, reizlose Frau gewesen. In den vier Wänden ihres Zimmers war ihr alles feindlich gesonnen. Verzweifelt fühlte sie, wie die Nachtwache sich unter ihrer Haut, in ihren Kopf hinein verlängerte, und das Fieber nach oben bis in ihre Haarwurzeln stieß. Es war, als hätten sich ihre Arterien mit winzigen heißen Insekten bevölkert, die beim Nahen des Tages erwachten und mit behenden Füßen in einem hemmungslosen subkutanen Abenteuer über dieses sprießende Stück Lehm liefen, in dem sich ihre anatomische Schönheit angesiedelt hatte. Vergeblich kämpfte sie, um jene schrecklichen Tiere zu vertreiben. Sie vermochte es nicht. Sie waren Teil ihres eigenen Organismus. Sie waren da und lebten seit vielen Jahren von ihrer leiblichen Existenz. Sie kamen aus dem Herzen ihres Vaters, der sie in ihren Nächten verzweifelter Einsamkeit schmerzlich genährt hatte. Vielleicht waren sie auch in ihre Arterien durch die Nabelschnur eingemündet, mit der sie seit dem Anbeginn der Welt mit ihrer Mutter verknüpft war. Diese Insekten waren fraglos nicht unmittelbar in ihrem Körper entstanden. Sie wußte, daß sie von weither kamen, daß alle, die ihren Namen trugen, sie ertragen mußten, sie erleiden mußten wie sie, als ihre Schlaflosigkeit sie bis zum Morgengrauen knebelte. Es waren die gleichen Insekten, welche diesen bitteren Anflug, diese untröstliche Traurigkeit auf die Gesichter ihrer Vorfahren malte. Sie hatte jene aus ihrer erloschenen Existenz, aus ihrem alten Portrait herüberblicken sehen, Opfer dieser selben Angst. Noch immer erinnerte sie sich an das beunruhigende Gesicht der Urgroßmutter, die von ihrer altersschwachen Leinwand herunter um eine Minute des Ausruhens bat, um eine Sekunde des Friedens von diesen Insekten, die dort in den Kanälen ihres Bluts sie noch immer peinigten und unbarmherzig verschönten. Nein; diese Insekten waren nicht die ihren. Sie überlieferten sich von Generation zu Generation und
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