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Wir nannten ihn Galgenstrick

Titel: Wir nannten ihn Galgenstrick
Autoren: Unbekannter Autor
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sich. So wie man es vor fünf Jahren in dem mit Wasser angefüllten Loch zurück gelassen hatte. Es wollte ihr nicht in den Kopf, daß es sich zersetzt hätte. Im Gegenteil, es mußte bildschön sein, wie es in dem dickflüssigen Wasser segelte, wie auf einer ausweglosen Reise. Oder sie sah es lebend, jedoch verstört und angstvoll, sich allein und in einem so düsteren Innenhof beerdigt zu fühlen. Sie selbst hatte sich dem Entschluß widersetzt, daß man es unter dem Orangenbaum so nahe am Haus zurückließ. Sie hatte Angst vor ihm. Sie wußte, daß es dies ahnen würde, wenn die Schlaflosigkeit sie nachts heimsuchte. Es würde durch die engen Gänge zurückkommen und sie bitten, es zu begleiten, sie bitten, es gegen die anderen Insekten zu verteidigen, welche die Wurzeln seiner Veilchen abfraßen. Es würde wiederkehren, damit man es an ihrer Seite schlafen ließe wie zu der Zeit, als es am Leben war. Sie hatte Angst davor, es von neuem neben sich zu spüren, nachdem es die Mauer des Todes übersprungen hatte. Sie hatte Angst davor, die Hände zu stehlen, welche »das Kind« immer geschlossen halten würde, um sein Stückchen Eis zu erwärmen. Nachdem sie es zu Zement verwandelt gesehen hatte wie die in den Schlamm gestürzte Statue der Angst, wünschte sie, daß es weit weg geführt werde, damit sie sich seiner nicht des Nachts erinnerte. Dennoch hatte man es da gelassen, wo es unerschütterlich und schmutzig war und wo es sein Blut mit dem Kot der Würmer ernährte. Und sie mußte sich damit abfinden, es aus seiner Höhle der Finsternis zurückkehren zu sehen. Denn immer und unweigerlich, wenn sie schlaflos lag, dachte sie an »das Kind«, das sie sicherlich aus seinem Stückchen Erde rief, damit sie ihm dabei half, diesem ungereimten Tod zu entkommen.
    Doch jetzt, in ihrem neuen zeitlichen, unräumlichen Leben war sie ruhiger. Sie wußte, daß dort, außerhalb ihrer Welt, alles im gleichbleibenden Rhythmus von einst weiterging; daß ihr Zimmer noch im Morgengrauen versunken sein mußte und daß ihre Dinge, ihre Möbel, ihre dreizehn Lieblingsbücher noch an Ort und Stelle stehen mußten. Und daß in ihrem unbenutzten Bett der Körpergeruch, der jetzt ihre Leere einer ganzen Frau einnahm, eben erst zu schwinden begann. Aber wie konnte »das« geschehen? Wie hatte sie, nachdem sie eine schöne Frau gewesen war, das Blut von Insekten bevölkert, in der totalen Nacht von Angst verfolgt, den riesigen, schlaflosen Alptraum hinter sich gelassen, um nun in eine seltsame, unbekannte Welt einzutreten, in der alle Größenverhältnisse ausgemerzt waren? Sie besann sich. In jener Nacht - die ihres Übergangs - war es kälter gewesen als gewöhnlich; von Schlaflosigkeit gepeinigt, hatte sie allein im Haus gelegen. Niemand störte die Stille, und der vom Garten aufsteigende Geruch war Angstgeruch gewesen. Der Schweiß drang aus ihrem Körper, als sei das Blut unter dem Druck der Insekten aus ihren Arterien geflossen. Sie hatte gewünscht, daß jemand auf der Straße vorbeiging, daß jemand schrie, die stockende Atmosphäre durchbrach. Daß sich etwas in der Natur bewegte, daß die Erde wieder um die Sonne kreiste. Es war vergebens. Nicht einmal die törichten Männer, die dicht unter ihrem Ohr, in ihrem Kopfkissen, eingeschlafen waren, würden erwachen. Auch sie war regungslos. Die Wände verströmten einen starken Geruch nach frischer Farbe, jenen zähflüssigen überwältigenden Geruch, den man nicht mit dem Geruchssinn, sondern mit dem Magen riecht. Und auf dem Tisch schlug die einzige Uhr mit ihrem tödlichen Werk die Stille. »Die Zeit ... ach, die Zeit ...!« seufzte sie und dachte an den Tod. Und draußen im Innenhof unter dem Orangenbaum weinte noch immer »das Kind«, weinte leise aus der anderen Welt herüber.
    Sie nahm Zuflucht zu all ihren Glaubenssätzen. Warum wurde es in diesem Augenblick nicht Tag, oder warum starb man nicht ein für alle Mal? Sie hatte nie geglaubt, daß die Schönheit sie so viele Opfer kosten könne. In jenem Augenblick - wie üblich - tat es ihr über ihre Angst hinaus weh. Und unter der Angst peinigten sie diese unbarmherzigen Insekten. Der Tod klammerte sich an ihr Leben wie eine Spinne, die sie wütend biß, entschlossen, sie zum Erliegen zu bringen. Sie aber zögerte diesen letzten Augenblick hinaus. Ihre Hände, diese Hände, welche die Männer stets mit solch offensichtlicher tierischer Nervosität drückten, waren reglos, gelähmt von der Angst, von dem irrationalen Schrecken, der
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