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Wir Kinder von Bergen-Belsen

Wir Kinder von Bergen-Belsen

Titel: Wir Kinder von Bergen-Belsen
Autoren: Hetty E. Verolme
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einem der vielen Flüchtlingsschiffe aus Schweden angekommen sei. Die ersten Tage mussten wir ihm noch helfen, auf das Fahrrad zu steigen, und wenn er zurückkam, legte er den Arm um den Laternenmast vor dem Haus, um zu bremsen und abzusteigen. Doch nach einer Woche machte seine Gesundung Fortschritte und er konnte jetzt schon allein auf- und absteigen.
    Die Wochen vergingen und jeden Tag kamen Max und mein Vater ohne Nachricht von meiner Mutter vom Bahnhof zurück. Wir wussten, dass sie in Schweden war, aber Kontakte waren im Nachkriegseuropa noch immer schwierig herzustellen.
    Es dauerte drei lange Monate, bis meine Mutter endlich zurückkam. Was für eine Freude, was für ein Glück! Sie hatte enorm zugenommen, denn die Schweden hatten alle ehemaligen Häftlinge kräftig herausgefüttert. Wir umarmten sie und berührten sie alle paar Sekunden, und mein Vater war im siebten Himmel, weil er seine Familie wieder um sich hatte.
    Der Transport, mit dem meine Mutter Bergen-Belsen am fünften Dezember 1944 verließ, war zu einem Lager nach Beendorf gegangen und sie hatte dort tief unter der Erde in Salzminen beim Bau automatischer Steuerungsinstrumente für deutsche Flugzeuge arbeiten müssen. Sie wurde zusammen mit den meisten Frauen der Diamantengruppe befreit und nach Schweden geschickt, als ein hochrangiger Nazi (vermutlich Himmler) sie dem schwedischen Diplomaten Graf Bernadotte gegen eine Kiste Wodka überließ.
    Die Pomstras waren wunderbare Menschen. Sie hatten das Haus voll und wir müssen ihnen manchmal sehr unbequem gewesen sein, aber es gab nie ein böses Wort. Ihre Gastfreundschaft war unübertroffen, und ihre Freundlichkeit half, manche Schmerzen zu lindern, die wir über den Verlust naher Familienmitglieder empfanden.
    Meine Mutter war beim Bürgermeister von Amsterdam gewesen und hatte ihn gebeten, uns bei der Suche nach einer neuen Wohnung behilflich zu sein. In unserer früheren Wohnung, bei Pomstras um die Ecke, lebte nun eine andere Familie. Nach langem Warten bekamen wir eine möblierte Wohnung zugewiesen, die die Regierung von einem niederländischen Nazi beschlagnahmt hatte. (Später kauften wir der niederländischen Regierung die Möbel ab.) Niemand kann das Glück beschreiben, das wir empfanden, als wir wieder ein eigenes Zuhause hatten und ohne Angst vor Razzien schlafen gehen konnten.
    Amsterdam war noch immer wie tot. Es gab keinen Handel und die Geschäfte in der Stadt waren mit Brettern vernagelt. Aber langsam, ganz langsam änderten sich die Dinge. Da und dort wurden im Amsterdamer Geschäftszentrum einzelne Läden wieder aufgemacht.
    Mein Vater beschloss, nicht auf die Märkte zurückzukehren, sondern ein Modegeschäft im Geschäftszentrum zu eröffnen. Der Sohn von Polak & Sohn, seinem früheren Hauptlieferanten, war zurückgekommen und hatte viele Stoffrollen in seinem Lager gefunden, offenbar zusammengetragen vom deutschen Liquidator des Geschäfts. Das war ein unverhoffter Glücksfall. Mein Vater und meine Mutter ließen dringend benötigte Kleidung für die niederländische Bevölkerung herstellen, die seit Jahren nichts mehr bekommen hatte, und das Geschäft lief gut.
    Ich ging wieder zur Schule, aber mir wurde, ebenso wie meinen Brüdern, bald klar, dass ein Studium für uns nicht in Frage kam. Wir waren psychisch zu angegriffen, um uns auf den Lehrstoff konzentrieren zu können. Ebenso wie unsere Eltern sprachen wir noch sehr langsam, und es dauerte Jahre, bis wir von uns sagen konnten, dass wir unsere Geisteskraft wieder zurückerlangt hatten und wieder normal sprechen konnten.
    Tante Jettie bot an, mir das Diamantenschleifen beizubringen. Sie war eine der besten in dieser Branche und mein Vater riet mir, das Angebot anzunehmen. Ich hatte zwei angenehme Jahre, in denen ich alles darüber lernte, und ich glaube, dass ich sehr gut war. Aber die Arbeit in einer Fabrik machte mir keinen Spaß, ich fühlte mich eingesperrt und wollte lieber draußen sein. Deshalb überredete ich meinen Vater, er solle mich in die Modebranche einführen und im Laden aushelfen lassen. Abends studierte ich dann Modedesign. Es war mir eine Freude, mit all den schönen Kleidungsstücken umzugehen, die wir verkauften.
    Die Jahre gingen schnell vorbei, und als Max 1951 zum Militärdienst einberufen wurde, beschloss er, stattdessen nach Australien auszuwandern. Er hatte sich in ein Mädchen verliebt, das im Februar ausgewandert war, und im April desselben Jahres befand er sich schon auf einem Schiff nach
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