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Wir Kinder von Bergen-Belsen

Wir Kinder von Bergen-Belsen

Titel: Wir Kinder von Bergen-Belsen
Autoren: Hetty E. Verolme
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Familie zu retten. Juden war es nicht erlaubt, Busse oder Straßenbahnen zu benutzen. Den ganzen Tag verbrachten wir wie in einem Albtraum, wir versuchten, nicht an all das zu denken, was unserer Mutter passieren könnte.
    Die Zeit zog sich hin, bis um fünf Uhr nachmittags das Tele-fon klingelte. Nach einigem Zögern nahm mein Vater den Hörer ab, voller Angst, was er vielleicht hören würde, doch dann trat ein Lächeln auf sein Gesicht. Mutter ging es gut und sie war auf dem Rückweg. Man kann sich unsere Freude und unser
    Glück vorstellen, als sie ein paar Stunden später ankam, müde, aber wieder in Sicherheit. Vater sagte, nie wieder würde er ihr etwas Derartiges erlauben, er sei an diesem Tag tausend Tode gestorben. Mutter jedoch lächelte glücklich, sie hatte ihren Auftrag erfüllt. Tatsächlich war es ihr gelungen, mit aus der Fünten zu sprechen, und man hatte ihr gesagt, sie solle in der nächsten Woche mit dem Geld und unseren Pässen wiederkommen. Man hatte sie auch angewiesen, zwei Koffer mit Kleidung für uns alle zu packen, damit wir zum Zeitpunkt eines Austauschs mit Kriegsgefangenen bereit für unsere Fahrt in die Freiheit seien. Wie wunderbar! Unsere Stimmung hob sich. Vielleicht würden wir bald wieder in Freiheit leben.
    Am nächsten Tag wurden wir alle fotografiert und unsere Fingerabdrücke wurden im Pass festgehalten. Die Woche verging und Mutter machte sich erneut auf den Weg zum SS-Hauptquartier. Ein weiterer unerträglicher Tag lag vor uns, aber diesmal kam Mutter mit den Abschriften unserer kostbaren Pässe früher zurück, gestempelt im Auftrag von aus der Fünten: »Der Inhaber dieses Ausweises ist von der Deportation in ein Arbeitslager freigestellt.« Diese Befreiung schützte uns davor, während der Razzien, die nun Nacht um Nacht stattfanden, weggebracht zu werden. Verzweifelt glaubten wir an das uns mündlich gegebene Versprechen, bald gegen Kriegsgefangene ausgetauscht zu werden.
    Mein Großvater war schon in einem Lager in Groningen, wo er für die Deutschen Zwangsarbeit verrichtete. Er war Fleischhändler gewesen, als die Deutschen Anfang 1941 den Juden verboten, Schlachthäuser zu betreten. Aber irgendwie musste er schließlich seinen Lebensunterhalt verdienen, und so gelang es ihm, mit Hilfe einiger nichtjüdischer Kollegen ein paar Rinder und Schafe auf einem Bauernhof in der Nähe von Amsterdam zu schlachten. Ich lebte damals bei meinen Großeltern und musste immer mein Zimmer räumen, wenn es nachts in eine Wurstfabrik verwandelt wurde. Zeitweise wurde auch der Tisch im Esszimmer zum Zerlegen des Fleisches benutzt. Eine Tür im Zaun ermöglichte es den Männern, die meinem Großvater halfen, zu verschwinden, wenn es eine Razzia gab.
    Bei einer der nächtlichen Aktivitäten wachte ich auf und bot meine Hilfe an. Großvater zeigte mir, wie man das letzte Fleisch mit einem rasiermesserscharfen Messer von den Knochen schabt, und er war stolz, als ich mich als gelehrige Schülerin zeigte. Doch eines Nachts verkündete die laute Türglocke Unheil. Ich konnte hören, wie mein Großvater seinen beiden Freunden half, durch den Zaun zu entkommen, bevor meine Großmutter die Tür öffnete und zwei niederländische Polizisten ohne Aufforderung eintraten. Die Zeit hatte nicht gereicht, die Arbeitsgeräte und das Fleisch für die Wurst zu verstecken, mein Großvater wurde auf frischer Tat ertappt. Während ein Polizist ihn verhörte, lehnte der zweite am Türrahmen. Sein Blick wanderte durch den Raum und blieb schließlich an einem Vorrat erstklassigen Specks hängen, den mein Großvater zum Trocknen hygienisch verpackt auf meinem Kleiderschrank ausgelegt hatte. Als der Polizist die Aufmerksamkeit seines Kollegen auf diese Entdeckung richtete, war mein Großvater noch mehr verzweifelt.
    Die Polizisten schrieben einen Bericht und konfiszierten das Fleisch, die Würste, die Salamis, den Speck und ebenso die ganze Ausrüstung. Etwa eine Stunde später kam ein Lastwagen und holte alles ab. Immerhin ließ man uns sechs Salamis und ein großes Stück Speck zum Eigenbedarf.
    Im Mai 1942 wurde mein Großvater in Amsterdam vor Gericht gestellt, und man ließ ihm die Wahl entweder vier Monate Gefängnis oder Arbeit in einem Arbeitslager. An einem Samstagnachmittag sagte mein Großvater zu mir, er würde einen viermonatigen Urlaub antreten. Die bedrückte Stimmung meiner Großmutter zeigte mir jedoch, was wirklich los war, und ich sagte zu meinem Großvater, ich wisse, dass er ins Gefängnis
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