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Wir Kinder von Bergen-Belsen

Wir Kinder von Bergen-Belsen

Titel: Wir Kinder von Bergen-Belsen
Autoren: Hetty E. Verolme
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müsse. Nie werde ich den Ausdruck der Scham auf seinem Gesicht vergessen. Der Gedanke, dass er, ein gottesfürchtiger Mann, der nie etwas Böses getan hatte, ins Gefängnis musste, war ihm unerträglich. Dann teilte er uns mit, dass er sich dazu entschieden habe, in ein Arbeitslager zu gehen. Jetzt, nach all diesen Jahren, weiß ich, dass er möglicherweise überlebt hätte, wäre er stattdessen ins Gefängnis gegangen.
    Nachdem mein Großvater im Arbeitslager war, kam meine Großmutter regelmäßig zu uns, denn sie wohnte nur wenige Schritte entfernt weiter unten in unserer Straße. Sie war die Mutter meiner Mutter und die wunderbarste Frau, die man sich vorstellen kann. Sie tat keiner Fliege etwas zuleide und wurde in der ganzen Nachbarschaft geliebt. Alle nannten sie »Oma Judie«. Meine wunderbare Großmutter sorgte für uns wie niemand sonst. Wenn wir unser wohlschmeckendes Mahl zu uns genommen hatten, fragte sie immer: »Und was möchtet ihr denn morgen?« Aber mit unseren vollen Bäuchen hatten wir nicht mehr so viel Appetit, um darüber nachzudenken, was wir morgen essen wollten.
    Am Freitag, dem 2. Oktober 1942, bereitete meine Großmutter einen süßen Birnenauflauf für uns vor, was für sie eine stundenlange Arbeit bedeutete. Als sie ihn uns zum Abendessen servierte, sagten wir ihr, wie lecker er war.
    »Esst, meine Kinder«, sagte sie, »und möge Gott euch alle segnen. Ich bin sicher, es ist das letzte Mal, dass Oma euch einen solchen Auflauf gebacken hat.«
    »Aber Oma«, sagte ich, »das ist doch Unsinn. Was redest du da? Du wirst noch lange, lange bei uns sein.«
    »Nein, mein Liebling«, sagte Oma. »Ich weiß es. Ich kann es fühlen. Heute Nacht werden sie kommen und mich abholen.«
    Ich brach in Tränen aus. »Bitte, Oma, rede nicht so. Wenn du das glaubst, dann bleibe heute Nacht einfach bei uns. Geh nicht heim. Und wenn du doch heimgehst, dann gehe ich mit dir.«
    »Nein.« Oma war entschlossen. »Heute Nacht schläfst du im Haus deiner Eltern.«
    Manchmal schlief ich bei Oma, damit sie nachts nicht so allein war, obwohl die Deutschen verboten hatten, dass man bei jemand anderem über Nacht blieb. (Die Deutschen hatten für die gesamte niederländische Bevölkerung eine Ausgangssperre von acht Uhr abends bis sechs Uhr morgens verhängt.)
    Als es kurz vor acht Uhr abends war, bereitete sich Oma darauf vor, nach Hause zu gehen. Sie küsste uns alle mit Tränen in den Augen und sagte: »Bleibt brav, meine Kinder, ich habe euch alle sehr lieb.« Mit diesen Worten verließ sie uns.
    Von diesem Moment an stellte sich Mutter vor das Schlafzimmerfenster, von wo aus sie Omas Haus sehen konnte. Um Viertel nach acht kamen die ersten Deutschen. Die Razzia hatte begonnen. Durch die Vorhänge konnten wir sehen, wie sie von Haus zu Haus gingen und Menschen aus ihren Wohnungen holten. Diesmal brachten sie die Leute auf Lastwagen zum Bahnhof, weil das schneller ging. Meine Brüder und ich waren im Wohnzimmer, als mein Vater rief. »Schnell, Kinder, kommt ins Schlafzimmer, sie holen Oma ab. Beeilt euch, damit ihr euch noch von ihr verabschieden könnt.«
    Vom Schlafzimmerfenster aus konnten wir Oma mit ihrem Gepäck sehen, sie rief und winkte uns zu. Mutter öffnete ein Fenster, obwohl die Deutschen das strikt verboten hatten.
    »Mutter, Mutter«, schrie sie. »Gott, lass nicht zu, dass sie meine Mutter mitnehmen.«
    Sie winkte verzweifelt und im nächsten Augenblick hing sie schon fast mit ihrem ganzen Körper aus dem Fenster im ersten Stock. Mein Vater packte sie und zog sie zurück. Inzwischen trieben die Deutschen Oma zum Weitergehen an.
    »Auf Wiedersehen, meine Kinder«, rief sie im Gehen. »Lebt wohl, lebt wohl.«
    Das waren die letzten Worte, die wir von Oma hörten. Meine geliebte, süße Großmutter! Wir hatten schon viele Leute »Auf
    Wiedersehen« rufen gehört, aber diesmal traf es unser Heim und unsere Familie. So lange ich lebe, werde ich jenen schrecklichen Freitagabend nicht vergessen.
    Monate vergingen und die Deutschen hörten nicht auf mit den Razzien. In unserer Nachbarschaft wurde es sehr still. Die Häuser wurden leer, weil die Deutschen die Bewohner abholten. Ein paar Tage später kam dann Puls, ein Fuhrunternehmer, und lud im Auftrag der Deutschen ihre Möbel und ihre sonstige Habe auf. Alles aus den jüdischen Wohnungen wurde nach Deutschland gebracht.
    Auch an unserer Schule in der President Brandstraat erstarb das Leben. Die meisten Schüler waren deportiert worden und jüdische
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