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Wir Genussarbeiter

Wir Genussarbeiter

Titel: Wir Genussarbeiter
Autoren: Svenja Flaßpoehler
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Abgründe
    Wir Menschen schauen mitunter neidvoll auf die Tiere. Wie wunderbar im Gleichgewicht die sind! Essen und jagen nur, um satt zu werden, kennen keine Haltungsschäden, keine Süchte und sind, wenn sie kein natürliches Bedürfnis quält, vollkommen entspannt. Wir hingegen: völlig aus dem Lot geraten. Wir arbeiten zu viel, genießen zu wenig, und wenn wir genießen, schlagen wir nicht selten über die Stränge und fühlen uns hinterher schuldig. Aber wem gegenüber eigentlich? Und wieso? Weshalb ist Genuss Sünde? Warum haben wir im Gegensatz zu den Tieren ein so gespaltenes, kompliziertes, ja zwanghaftes Verhältnis zu den eigenen Lüsten?
    Um diese Fragen zu beantworten, lohnt sich zunächst ein Blick in unsere Kulturgeschichte. Wer genießt, darin sind sich die großen Erzählungen des Abendlandes einig, macht sich schuldig. Schuldig an Gott und schuldig an der Gesellschaft, denn der Genuss dient weder dem Allmächtigen noch der Moral, sondern einzig und allein der Lust. In der Schöpfungsgeschichte bringt das Naschen vom Baum der Erkenntnis tiefe Scham und die Vertreibung aus dem Paradies mit sich. Der verbotene Genuss ist der Grund dafür, dass der Mann sich im Schweiße seines Angesichts bei der Arbeit quälen muss, während die Frau unter Schmerzen gebärt. Der Mensch, ein Erbsünder, so lehrt uns die Bibel. Doch auch aufgeklärte Philosophen mahnen seit jeher, dass man den Lüsten keinen
freien Lauf lassen sollte. Georg Wilhelm Friedrich Hegel etwa behauptete, dass nur, wer seine Begierde »hemmt« und die Früchte der Natur unter Mühen bearbeitet, anstatt sie sofort zu verschlingen, seine Triebhaftigkeit überwinden und so zu wahrer, nachhaltiger Befriedigung durch das von ihm gestaltete Werk gelangen kann. Ein Mensch hingegen, dessen Lust sich in Verzehr und Vernichtung erschöpft, versinkt im Genuss, einem höchst flüchtigen Vergnügen, denn aus dem Genuss geht nichts hervor. Ja, die Gefahr ist groß, dass man dem einen Genuss sogleich den nächsten folgen lässt, dass man sich verliert in einer Endlosschleife des Genießens, weil die ersehnte Befriedigung sich nicht einstellen will. Und Hegel war, was die Missbilligung des Genießens angeht, noch vergleichsweise gnädig. Am vernichtendsten nämlich urteilte der große Aufklärer und Pflichtethiker Immanuel Kant über den Genuss. »Daß aber eines Menschen Existenz an sich einen Wert habe, welcher bloß lebt […] um zu genießen […]: das wird sich die Vernunft nie überreden lassen«, ist in seiner Kritik der Urteilskraft zu lesen. »Nur durch das, was er tut ohne Rücksicht auf Genuß, in voller Freiheit und unabhängig von dem, was ihm die Natur auch leidend verschaffen könnte, gibt er seinem Dasein als der Existenz einer Person einen absoluten Wert.« Weil er sein Tun nicht auf eine Pflicht, sondern auf seine Neigung gründet, verspielt der Genießende für Kant seinen »Wert«: Er ist abhängig von seiner Natur, von seinen Trieben und daher kein vollwertiges, verlässliches Mitglied der Gesellschaft.
    Das klingt hart, und wir werden noch erfahren, warum der »Alleszermalmer« – so wurde Kant des Öfteren im Zuge der Philosophiegeschichte genannt – auf fatale Weise irrt: Ein Mensch, der alle Neigungen zurückbannt, um einzig und allein der Pflicht zu dienen, ist eine Maschine, die so lange arbeitet,
bis sie zusammenklappt. Nichtsdestotrotz hat selbst der gestrenge Kant in einem Punkt durchaus recht: Wer immer nur genießt, ist zu wertvoller Kulturarbeit kaum fähig. Nur weil wir unsere Lüste kontrollieren und uns in Triebverzicht beziehungsweise -aufschub üben, gehen wir höflich miteinander um und morgens ins Büro. Würden wir unsere Begierden nach Lust und Laune ausleben, gäbe es keine Kultur, keine Moral, keine Zivilisation. Maschinen, Straßen, Supermärkte, Computer, Mathematik, Biologie, Physik, Philosophie, Diplomatie, Tische, Stühle, Bänke, Brot und Butter, Kinos, Jonathan Franzens Roman Freiheit oder die amerikanische Kultserie The Sopranos , keine einzige zivilisatorische Errungenschaft würde existieren, wenn der Mensch nicht seit jeher von unmittelbarer Triebbefriedigung abgesehen und sich stattdessen Tätigkeiten wie Bauen, Konstruieren, Forschen, Denken, Backen, Schreiben und Entwerfen, kurz: der Arbeit, zugewandt hätte. Die Fähigkeit zu Entsagung und Triebaufschub macht den Menschen tatsächlich überhaupt erst zum Menschen, das heißt zu einem denkenden, schöpfenden und, last but not least, sittlichen Wesen:
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