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Wir Genussarbeiter

Wir Genussarbeiter

Titel: Wir Genussarbeiter
Autoren: Svenja Flaßpoehler
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ob konkret oder abstrakt), dessen Anerkennung er sich wünscht und zu dem er sich in ein Verhältnis setzt. Dass diese Struktur auch und insbesondere für das Denken gilt, haben die antiken Denker erkannt: Der Denkakt ist, wie es in Platons Gastmahl heißt, eine geistige Zeugung , zu der naturgemäß immer zwei gehören. Entsprechend hatte Sokrates auf seinen Wandelgängen stets einen Gesprächspartner, sein Philosophieren war im wahrsten Sinne ein dialektisches, eine Kunst der Unterredung, der Gesprächsführung, des zweisamen Müßiggangs . Das Wort ›Genussarbeit‹ beginnt vor diesem Hintergrund zu schillern, ja bekommt einen ganz anderen Sinn: Als dialektische ist sie nicht exzessiv, sondern sinnlich, nicht rein geistig, sondern immer auch körperlich und mit Lust und Muße verknüpft. Zudem, und auch das ist entscheidend, liegt das Gelingen dialektischer Denkarbeit nie nur in der eigenen
Hand, sondern immer auch in der Macht des Anderen. Dieser Andere kann ein menschlicher Anderer sein; es kann sich aber auch um Eros handeln, um den großen Dämon der Liebe, der das Denken inspiriert, es befruchtet – und zwar in aller Regel genau dann, wenn man loslässt, träumt und nicht verkrampft nach einer Lösung sucht.
    Dieses Buch beleuchtet die Genussarbeit in ihrer tiefen Ambivalenz. Sind wir dabei, die marxistische Utopie unentfremdeter Arbeit zu realisieren, nur weil wir unsere Laptops und Blackberrys mit ins Bett nehmen? Oder verwechseln wir womöglich eine lustvolle Verwirklichung durch Arbeit mit einem zwanghaften Nicht-loslassen-Können? In welchem Verhältnis steht der Genuss zum Denken? Warum brauchte Heidegger die Askese der Berghütte, um in eine intime Beziehung zum Gedanken zu treten, während Sokrates bei Speis und Trank über den Eros philosophierte? Und weshalb scheinen wir heute der Erotik des Denkens, ja der Erotik schlechthin ferner zu sein denn je? Was für einen Bezug haben wir zur Sexualität in einer Gesellschaft, die einerseits Triebverzicht fordert, andererseits aber jede auch nur denkbare Überschreitung als lustvollen Kick anpreist? Täuscht die gegenwärtige, viel beschworene Pornographisierung der Gesellschaft womöglich nur darüber hinweg, dass wir im Grunde immer prüder und asketischer werden? Leben wir tatsächlich in einer enttabuisierten, durch und durch schamlosen Zeit, wie immer wieder behauptet wird? Oder weisen exhibitionistische Talkshows und auch Slogans wie Geiz ist geil eher darauf hin, dass wir uns womöglich gar schuldiger fühlen denn je? Welche Folgen hat die Säkularisierung für unser Genussverhalten? Und welche der technisch-medizinische Fortschritt? Bedeutet die Tatsache, dass wir über den eigenen Körper verfügen, ihn nach Belieben trainieren, verschönern, modifizieren, seine natürlichen
Grenzen überschreiten können, wirklich einen Zugewinn an Freiheit? Oder ist die Elastizität des Körpers, seine Form-, Bieg-und Veränderbarkeit, nur ein Auswuchs ebenjener Flexibilität, die heute allenthalben gefordert ist?
    Diesen und anderen Fragen widmet sich dieses Buch, das der gezwungenen Freiheit, dem freien Zwang unserer heutigen Leistungsgesellschaft auf den Grund zu gehen versucht. Einerseits sind wir so frei wie nie zuvor in der Geschichte der Menschheit; andererseits aber werden wir mit immer absurderen Leistungsanforderungen konfrontiert, die wir fatalerweise mit unserem eigenen Begehren identifizieren. Was wir wollen und was wir müssen, ist in Zeiten zunehmender Selbstverantwortung und Selbstausbeutung kaum noch unterscheidbar.
    Zeigen möchte ich, dass wir gerade heute, in einer Zeit unausgesetzten Tuns und neurotischer Selbstoptimierung, wieder lernen sollten zu lassen. Das Lassen in seinen unterschiedlichen Formen ist die Freiheit des »Nicht-zu« (Byung Chul-Han), die Zweckfreiheit, die keiner Verwertungslogik gehorcht. Nur wenn wir nicht jede Herausforderung reflexhaft annehmen, nicht jede Möglichkeit zwanghaft nutzen, nur weil es sich um eine Möglichkeit handelt, sind wir wirklich frei. Es ist dies die Freiheit des Auslassens, des Einlassens und Seinlassens, die Freiheit des Nicht(s)tuns, des Ablassens, Gelassenseins und Loslassens. Erst wenn wir bereit sind, der Aktivität die Passivität an die Seite zu stellen, können wir die Gesellschaft, in der wir leben, und auch uns selbst verwandeln. An die Stelle von Entsagung und Exzessivität träte ein Genuss, der uns zum Funkeln bringt.

Das genießende Arbeitstier
Über den Menschen und seine
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