Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Wir Genussarbeiter

Wir Genussarbeiter

Titel: Wir Genussarbeiter
Autoren: Svenja Flaßpoehler
Vom Netzwerk:
nackter Ehrgeiz getreten, ein unerbittlicher Kampf um Anerkennung, der keine Grenzen mehr kennt. Wer lediglich fleißig ist und erledigt, was verlangt wird; wer Zeit mit der Familie verbringen will und am Sonntag prinzipiell nicht arbeitet, auch wenn eine Deadline drängt, gilt als unmotiviert und häufig auch als unbrauchbar. Einigermaßen sicher im Sattel beziehungsweise auf Chefposten sitzen nur die, deren Arbeitseifer unendlich ist, die in vorauseilendem Gehorsam auch am Wochenende arbeiten, spätabends noch E-Mails schreiben, jede Aufstiegsmöglichkeit beim Schopfe packen, die sich selbst überschreiten und bisweilen auch überschätzen.
    Zweitens: Anders als Weber leben wir heute in Zeiten des globalisierten Schnäppchenkapitalismus, der die Gier respektive
den Geiz (beide Wörter haben denselben Wortstamm), für den gläubigen Christen eine Todsünde, als lustvolle Grenzüberschreitung anpreist (Geiz ist geil!). Mit protestantischer Sparsamkeit hat der Geiz-Konsum nur scheinbar zu tun, geht es doch letztlich nicht darum, das Geld bei sich zu behalten, sondern möglichst viel für möglichst wenig zu bekommen. Der Schnäppchenkapitalismus ist ein Verschwendungskapitalismus. Wachsam studieren wir Sonderangebote, verfolgen Auktionen bei eBay, damit uns kein heruntergesetzter Fernseher, keine preisgünstige Couch entgeht. Dass Genuss heute Arbeit ist, hat also auch mit diesem Volkssport des gegenseitigen Wegschnappens zu tun, der die Massen selbst nachts die Discounter stürmen lässt.
    Drittens haben wir heute probate Mittel und Wege gefunden, dem leiblichen Genuss, den der protestantische Asket sich naturgemäß versagt, den Stachel der Schuld zu ziehen. Genuss ohne Reue, so lautet das Motto des Wellness-Zeitalters. Alkoholfreies Bier, fettreduzierter Käse, virtueller Sex: »Alles ist erlaubt, man kann alles genießen«, schreibt der Philosoph und Kulturkritiker Slavoj Žižek, »unter der Bedingung, daß es seiner Substanz beraubt ist, die es gefährlich macht.« Der Wellness-Genuss ist schuldfrei, weil er sich nicht über gesellschaftliche Leistungsanforderungen erhebt, sondern den Körper gerade umgekehrt leistungsstark macht, ja im Grunde sogar selbst Arbeit ist. Es wird geschwitzt und gepeelt, trainiert und gefastet, meditiert und der Darm durchgespült, um den Körper fit zu machen und auch noch den letzten Dreck aus ihm herauszuschwemmen. Ob Fitness, Diät oder Wellness-Kloster: Die Wohlfühlarbeit reinigt den Körper, anstatt ihn zu beschmutzen, durch sie erspart man sich die Verschuldung, die ein zweckfreies Genießen unweigerlich mit sich bringt.

    Hervorgegangen ist der Wellness-Kult bezeichnenderweise aus einer protestantischen Freikirche. So sehen die Siebenten-Tags-Adventisten den menschlichen Körper als »Tempel des Heiligen Geistes«, wie es in den Korintherbriefen heißt, und den Adventisten zugehörig fühlte sich einst auch ein Arzt namens John Harvey Kellogg. Im Battle Creek Sanatorium, das Kellogg leitete, aß man ausschließlich vegetarisch, nahm Heilbäder und ertüchtigte sich beim Sport. Alkohol, Tabak und Kaffee waren selbstredend untersagt. Und als John Harvey gemeinsam mit seinem Bruder Will Keith die erste knusprige Frühstücksflocke erfand, waren die Patienten im Battle Creek Sanatorium so glücklich über die neue Verbindung von Genuss und Vernunft, dass sie sich das neue Produkt auch nach ihrer Entlassung noch zusenden ließen. Ein neuer Industriezweig war geboren, der des gesundheitsbewussten Genießens, das den Körper stärkt, anstatt ihm zu schaden.
    Das Genießen passt sich also dem Leistungsgedanken an; und umgekehrt ist auch die Leistung, sprich: die Arbeit, längst nicht mehr das Gegenteil des Genusses. Arbeit, das war in früheren Zeiten eine Plage, die Strafe Gottes für den Sündenfall, bis zum körperlichen Ruin mühte sich der Mensch ab mit Acker und Vieh, und wie froh war er, wenn er abends Pferdegeschirr und Sense an den Haken hängen konnte. Heute hingegen ist Arbeit – zumindest für die Mittel- und Oberschicht der westlichen Welt – keine Strafe im alttestamentarischen Sinne mehr, sondern eher ein Labsal. Vorbei die Zeiten körperlicher Qual, der Pflüge und Pferdekarren. Heute sitzt man auf ergodynamischen Stühlen vor schicken Macs, neben sich eine Latte macchiato, und gibt sich, scheinbar mühelos, dem Rausch der Arbeit hin. Der Genussarbeiter fühlt die Anstrengung nicht oder nur kaum, seine körperliche Aktivität beschränkt sich weitestgehend
auf das
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher