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Wir Ertrunkenen

Wir Ertrunkenen

Titel: Wir Ertrunkenen
Autoren: Carsten Jensen
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halben Häuser zurückkehrten, deren Türen mit Brettern vernagelt waren, um ein neues Schattenleben zu beginnen, das zu ihren leblosen Gesichtern und den gesenkten Blicken passte.

    Bluetooth fand Ruinen und ausgebrannte Häuser normal. Und so war es auch nicht die düstere Ruinenlandschaft, die seine Aufmerksamkeit erregte, sondern ein großer weißer Vogel, der ganz oben auf einem zerschossenen Kirchturm saß.
    «Schaut mal», sagte er, «dort sitzt Frede.»
    Er sagte es diesmal auf Dänisch. Er konnte problemlos zwischen den beiden Sprachen wechseln. Von dem Storch auf Goldsteins Dach in Marstal hatten sie ihm erzählt, allerdings nichts von Antons Mordversuch. Nun glaubte er, Frede zu sehen.
    «Nein, das ist nicht Frede. Das ist ein Storch, so wie Frede.»
    Knud Erik konnte ein Lachen nicht unterdrücken, und ein Passant starrte ihn an, als wäre sein Lachen eine Art Landesverrat, als hätte er lauthals Hitler verflucht.
    Der Storch breitete seine Flügel aus und flog mit schweren Flügelschlägen die Straße entlang. Sie folgten ihm. Als sie den Bahnhof erreichten, saß er auf dem zerstörten Dach, als würde er ihnen den Weg weisen.
    Wasserpfützen auf dem Steinboden verrieten, dass es erst kürzlich geregnet haben musste. Überall saßen oder lagen Menschen. Sie hatten sich in den Mauerresten eingerichtet, als wären es Bänke und Stühle, die ihnen von vorausschauenden Behörden zur Verfügung gestellt worden waren. Die meisten von ihnen mussten obdachlos sein, sie erweckten nicht den Eindruck, als hätten sie irgendein Ziel. Wohin sollten sie auch reisen? Zum nächsten zerschossenen Bahnhof?
    In einer Ecke wurden Kaffee und Brot verteilt. Auf einem Schild hieß es, dass später am Tag eine dünne Suppe ausgegeben würde. Obwohl sie hungrig waren, wagten sie nicht, sich anzustellen; sie fürchteten, entdeckt zu werden. Knud Erik machte mit einem Päckchen Zigaretten die Runde und kam kurz darauf mit einem Brot, einer Wurst und einer Flasche Wasser zurück. Bluetooth aß mit großem Appetit. Die anderen kauten lange. Sie wussten nicht, wann sie wieder etwas zwischen die Zähne bekämen.
    Sie übernachteten in der Bahnhofshalle und stiegen am nächsten Morgen in einen Zug nach Bremen. Dort wollten sie nach Hamburg umsteigen. Fahrkarten besaßen sie nicht. Wieder waren es Knud Eriks Zigaretten, die das Problem lösten. Der Bahnsteig war überfüllt, aber sie benutzten Old Funny als Wellenbrecher. Die Leute wichen aus, sie
glaubten tatsächlich, er sei ein armer Kriegsinvalide. Ihm fehlte nur das Eiserne Kreuz an der Brust.
    Eine Frau in einem viel zu großen Wintermantel stand mitten auf dem Bahnsteig. Sie sah nicht aus, als wollte sie mitfahren, stand einfach nur da. Ihr bleiches, ausgezehrtes Gesicht, das zur Hälfte von einem unter dem Kinn festgebundenen Kopftuch bedeckt war, zeigte den verlorensten Ausdruck, den Knud Erik jemals gesehen hatte. Sie war nicht in sich gekehrt wie die anderen, sondern überhaupt nicht vorhanden. Ihre Augen waren leerer, als sie es gewesen wären, hätte sie das Weiße nach außen gekehrt. Sie wurde von der drängelnden Menge hin und her geschubst, und plötzlich sprang der Koffer auf, den sie in der Hand hielt. Ein kleines Kind fiel heraus. Er sah es ganz deutlich. Es war eine verkohlte Kinderleiche, verschrumpelt und nahezu unkenntlich wie eine Mumie, eingetrocknet von der Hitze des Feuers, das offensichtlich auch der Mutter den Verstand geraubt hatte. Sie wurde von einem Mann zur Seite gestoßen, der seinen Blick stur auf die Wagenreihe richtete. Dann trat er, ohne darauf zu achten, wohin er seine Füße setzte, auf die Leiche, die vor ihm lag. Knud Erik wandte sich ab.
    «Schaut mal!», rief Bluetooth. «Die Frau hat ihre Negerpuppe verloren.»
     
    Ein paar Stunden später näherten sie sich Hamburg. Beinahe eine halbe Stunde lang erblickten sie nichts als Ruinenfelder. Sie dachten, sie hätten gesehen, was Bomben in einer Stadt anrichten können, doch nun begriffen sie, dass sie vorher nichts gesehen hatten. Hier erhoben sich keine demolierten und verrußten Hausfassaden mehr aus Haufen von Schutt und Mauersteinen. Hier konnten sie nicht einmal mehr die Straßen erahnen, die es einmal gegeben hatte. Die Vernichtung war vollkommen, es war kaum vorstellbar, dass dies durch Menschenhand geschehen sein konnte. Nach einer Naturkatastrophe sah es allerdings auch nicht aus. Dann wäre zumindest irgendetwas stehen geblieben, es hätte eine Art Zufälligkeit geherrscht, aber über
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