Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Wir Ertrunkenen

Wir Ertrunkenen

Titel: Wir Ertrunkenen
Autoren: Carsten Jensen
Vom Netzwerk:
wollte Wally wissen.
    «Geld.»
    «Hast du deutsche Mark?»

    Wally schaute ihn überrascht an.
    «Ich habe eine bessere Währung. Ich habe Zigaretten.»
    «Du bist ein vorausschauender Mann», meinte Sophie.
    «Manchmal», erwiderte er. «Nur manchmal.»
     
    Sie wussten nicht genau, wo die Front verlief, ob sie sich davor oder dahinter befanden und ob die Deutschen überhaupt noch Widerstand leisteten oder bereits überrannt worden waren. Die Russen befanden sich in weiter Ferne. Hier rückten die Amerikaner vor. Sie waren irgendwo in der Deutschen Bucht gelandet. Nun mussten sie hinüber zur Ostsee kreuzen. Das letzte Stück nach Marstal konnten sie nur auf dem Seeweg bewältigen.
    Die ersten paar Stunden entdeckten sie keine Kriegsspuren. Die Straße verlief durch ein flaches Marschland mit vereinzelten Bauernhöfen. Die Landstraße vor ihnen war nach wie vor menschenleer. Bluetooth war seine ausgelassene Springerei leid und kletterte auf den Schoß von Old Funny, der wie durch ein Wunder eine Flasche Rum unter seiner Decke hervorgezaubert hatte. Wally behauptete einmal, er habe einen doppelten Boden in seinem Rollstuhl, in dem er ein Lager flüssiger Ware verstecke.
    Im Lauf des Vormittags erreichten sie ein Dorf. Aus einem Schornstein stieg Rauch auf. Knud Erik ging den Gartenweg entlang und klopfte an. Niemand kam, um zu öffnen, aber er sah ein Gesicht, das ihn hinter der Gardine verborgen durchs Fenster anstarrte. Auf der Landstraße tauchten die ersten Bombenkrater auf. Sie standen voller Wasser, in dem sich der blaue Frühlingshimmel spiegelte. Schon bald mussten sie Kratern und ausgebrannten Lastwagen ausweichen. Sie näherten sich einer Stadt, auf der Landstraße tauchten Menschen auf. Unrasierte Soldaten in dreckigen Uniformen schlenderten wie zufällig vorbei. Es war nicht klar, ob sie auf der Flucht waren oder einen Befehl ausführten, an den sie längst nicht mehr glaubten. Pferdewagen mit Bergen von Möbeln und Matratzenstapeln auf der Ladefläche rumpelten vorüber.
    Ihnen folgten Menschen mit ausdruckslosen Gesichtern. Sie bewegten sich mit mechanischen Schritten wie aneinandergekettete Gefangene. Andere trotteten mit Schubkarren oder Handwagen dahin. Alle hielten die Augen niedergeschlagen und schienen in sich selbst versunken zu sein.

    « Look a horsey!», rief Bluetooth in seinem Kinderenglisch und zeigte mit dem Finger darauf. Sie zischten ihm zu, still zu sein; nicht weil sie Angst hatten, sich von der ständig größer werdenden Menge zu unterscheiden, sondern weil sein fröhlicher Ausruf frivol klang in diesem stummen Leichenzug. Ihnen wurde rasch klar, dass sie aussahen wie alle anderen. Ein Mann im Rollstuhl mit einem Kind auf dem Schoß, eine Frau, eine Gruppe Männer, die vor sich hintrotteten – eine Gruppe auf der Flucht, die sich zufällig gefunden hatte. In ganz Europa waren die Landstraßen voll von Menschen wie ihnen. Sie hatten ihr Zuhause verloren und hielten Ausschau nach einem anderen, noch nicht vom Krieg zerstörten. Doch im Unterschied zu den meisten anderen hatten sie ein Ziel und eine Hoffnung, und dies galt es zu verbergen. Sie mussten ihre Blicke senken und ihre Stimmen dämpfen, damit sie nicht zu fröhlich klangen.
    Sie machten eine Entdeckung: Niemand schaute den anderen an oder beachtete die Zerstörungen um sich herum. Alles, was diese Menschen sahen, waren ihre eigenen Schuhspitzen, als ob es auf der Welt nichts anderes mehr gab als diesen blinden Impuls, der sie von einem Ruinenhaufen zum nächsten trieb. Knud Erik hatte befürchtet, dass Absalons Hautfarbe sie verraten würde, aber niemand würdigte ihn eines Blicks. Die Deutschen sahen nur sich selbst und ihre zerstörten Leben und Träume. Nur wenn die Flüchtlinge der Nimbus begannen, sich umzuschauen, nur wenn ein wenig Leben in ihren Augen aufleuchtete, würden sie sich unterscheiden und auffallen.
     
    Sie kamen in eine Stadt. Der größte Teil der Häuser war ausgebombt, doch Ruinen hatten sie auch in Liverpool, London, Bristol und Hull gesehen. An einigen Stellen standen die Fassaden noch, vier, fünf Etagen hoch, mit leeren Fensteröffnungen, umgeben von rußgeschwärzten Mauern. In anderen Straßen waren die Fassaden eingestürzt; sie sahen die nackten Böden und Zwischendecken der einzelnen Etagen. Sie schauten in Räume, von denen sie sich vorstellen konnten, dass es irgendwann einmal Schlafzimmer oder Küchen gewesen waren. Sie erwarteten jeden Moment, dass die Menschen auf der Straße in ihre
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher