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Wintermörder - Roman

Titel: Wintermörder - Roman
Autoren: Wilhelm-Goldmann-Verlag
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Hand in seiner lag und er langsam begann, einen Finger nach dem anderen zu massieren.
    Erst nach einigen Minuten brachte Denise einen Laut hervor. Kein Wort, keinen Schrei, kein Weinen. Nur einen einzigen Ton, als ob jemand ihr die Worte zurück in den Rachen stieß, um sie zum Schweigen zu bringen. Sie rang nach Luft. Erneut gaben die Knie nach, während bittere Galle aus dem Mund schoß wie in den ersten Wochen der Schwangerschaft.
    Danach war sie erschöpft und schloss die Augen. Ihr Kopf schmerzte. Sie versuchte zu begreifen. Frederik, ihr Sohn, war verschwunden. Er war aus dem Haus gegangen wie jeden Morgen, doch nicht in der Schule angekommen. Das war nicht möglich. Das konnte nicht sein.
    »Wie heißen Sie?«, brachte sie stockend hervor.
    »Liebler. Henri Liebler.«
    Sie hörte die Antwort nur weit entfernt, wie sie mehr zu ahnen schien, als es wirklich sah, dass er den Fußboden von ihrem Erbrochenen reinigte. Genauso gut könnte sie in einer Luftblase schweben.
    Dann telefonierte er flüsternd. »Fünf Stunden, Ron. Das Kind ist seit fünf Stunden verschwunden. Du weißt, was das bedeutet. Mann, beweg endlich deinen Arsch hierher.«
    Ihr Körper wurde jetzt endgültig zu einer weiche Masse, durch die sich Telefondrähte zogen. Er zerfloss auf dem Fußboden, verteilte sich im Raum. Ihre Beine waren plötzlich zweidimensional. Nur Schatten, die sich abzeichneten. Sie war dabei, sich aufzulösen. Jemand musste ihr Halt geben.
    »Oliver«, sagte sie laut. »Ich muss ihn anrufen.«
    Jemand beugte sich über sie. »Wie geht es dir?«
    Myriam. Es war Myriam. Sie war nicht allein. »Ich muss ihn anrufen«, wiederholte sie.
    »Ich hole dir das Telefon.«
    Das Handy lag schwer in Denise’ Hand. Es rutschte ihr durch die Finger und fiel zu Boden. Myriam hob es auf. »Welche Nummer?«
    »Die Zwei«, antwortete Denise. »Drück einfach die Zwei.«
    Endlich hielt sie den Hörer in der Hand. Fest presste sie ihn an ihr Ohr.
    »Oliver?«
    Seine Stimme klang ganz nah.
    »Oliver?«
    »Was gibt es denn?«, hörte sie ihren Mann fragen.
    »Er ist verschwunden. Frederik ist nicht von der Schule nach Hause gekommen.«
    »Wo ist er denn?«
    »Ich weiß es nicht.«
    »Mach dir doch nicht immer gleich Sorgen. Er wird schon wiederkommen. Ich muss jetzt aufhören.« Ungeduld schlug ihr aus dem Hörer entgegen.
    »Verstehst du nicht? Er ist nicht von der Schule zurückgekommen, er ist nicht einmal dort angekommen. Es ist schon fünf Stunden her, dass er verschwunden ist«, schrie sie.
    »Hast du bei Daniel angerufen?« Er schien sich keine Sorgen zu machen.
    »Nein.« Denise hörte jetzt ihre eigene Stimme wie ein Echo. Myriam hatte den Lautsprecher angestellt.
    »Dann mach das doch«, Olivers Stimme sprach in diesem gereizten, ungeduldigen Ton, wie es für ihn in letzter Zeit typisch war. »Es wird schon nichts passiert sein. Ich kann nicht sprechen, ich sitze hier mit den Chinesen beim Abendessen.«
    »Aber er ist nicht in der Schule gewesen. Er ist dort nicht angekommen.«
    Denise brach in Tränen aus. Wie nannte man dieses stoßweise Atmen? Hyperventilieren?
    »Er glaubt es nicht«, wandte sie sich an Myriam. »Er glaubt mir nicht.«
    Myriam nahm ihr den Hörer aus der Hand. »Hier spricht Myriam Singer, die ermittelnde Staatsanwältin. Ich muss Sie bitten, sofort zurückzukommen.«
    »Ich kann mich hier nicht einfach in einen Zug setzen und …«
    »Hören Sie nicht zu? Ihr Sohn ist verschwunden. Interessiert Sie das überhaupt nicht?«
    »Was geht Sie das an?«
    »Alles«, antwortete Myriam. »Wir haben Anlass, an ein Verbrechen zu denken.«
    »Ein Verbrechen, aber wer sollte ...«
    »Heute Morgen wurde Henriette Winkler ermordet auf ihrem Grundstück aufgefunden.«
    »Henriette? Henriette tot? Das ist ja ….«
    »Kommen Sie sofort zurück!«
    Sprachen sie weiter? Denise wusste es nicht. Wie immer hielt sie den Schmerz besser aus, wenn sie ihn kommen ließ. Auch wenn er sie auslöschte, bis sie sich unsichtbar fühlte und an dem Ort war, den Mike immer die vierte Dimension nannte, in der man die Außenwelt abdreht wie einen Fernseher.
    Doch eine energische Stimme holte sie zurück.
    »Denise.«
    Sie schlug die Augen auf.
    Myriam streckte ihr die Hand entgegen. »Steh auf. Ich bringe dich ins Schlafzimmer. Du musst dich ausruhen. Du brauchst deine Kraft.«
    Mühsam erhob sie sich. Die Decke rutschte herunter. Als Myriam sie ihr wieder um die Schultern legte, hörte sie das Martinshorn.
    »Es gilt mir«, dachte sie. »Es ist
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