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Winterkinder: Drei Generationen Liebe und Krieg (German Edition)

Winterkinder: Drei Generationen Liebe und Krieg (German Edition)

Titel: Winterkinder: Drei Generationen Liebe und Krieg (German Edition)
Autoren: Owen Matthews
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der 16. Parteitag der KPdSU den ersten Fünfjahrplan zur Entwicklung der Volkswirtschaft. Der Bürgerkrieg war gewonnen, der Generalsekretär der Partei, Josef Stalin, hatte seinen Erzrivalen Leo Trotzki abgelöst, und die Partei wollte mit dem Plan aus den Ruinen eines von Krieg und Revolution zerstörten Russlands ein neues sozialistisches Land erstehen lassen. Das Ganze war nicht nur ein Wirtschaftsprojekt – es war für junge Gläubige wie Bibikow nichts Geringeres als der Entwurf einer strahlenden sozialistischen Zukunft.
    Der Plan sah vor, die Bauern zu sozialisieren, die über 80 Prozent der Bevölkerung ausmachten und aus Sicht der Partei gefährlich reaktionär waren. Die Revolution war vorwiegend urban, gebildet, doktrinär – so wie Bibikow selbst. Die Bauern mit ihrem blasphemischen Wunsch nach der eigenen Scholle und ihrer starken Bindung an Familie und Kirche wehrten sich gegen das Monopol der Partei über ihre Seelen. Ziel war es, das Land zu einer »Getreidefabrik« zu machen und die Bauern zu Arbeitern.
    »100 000 Traktoren machen den muschik , den Bauern, zum Kommunisten«, schrieb Lenin. So viele Bauern wie möglich sollten in die Städte getrieben werden, um dort gute Proletarier zu werden. Die, die auf dem Land blieben, sollten auf großen, effizienten Kolchosen arbeiten. Und um diese Kolchosen effizient zu machen und Arbeitskräfte für die Städte freizustellen, wurden Traktoren gebraucht. Während der Aussaat im Frühjahr 1929 waren in der ganzen Ukraine lediglich fünf Traktoren im Einsatz. Die übrige Arbeit wurde von Männern und Pferden geleistet. Das weite Land mit der schwarzen Erde folgte, wie schon seit unzähligen Generationen, dem langsamen Herzschlag der Jahreszeiten und dem Rhythmus der Arbeit von Mensch und Tier.
    Das würde die Partei ändern. Stalin selbst befahl den Bau von zwei gigantischen Traktorenwerken im Herzen des Getreidegürtels in Süd- und Zentralrussland – eine in Charkow in der Ukraine, dem Brotkorb des Reiches, und die andere in Tscheljabinsk am Rande der leeren Steppen. Die Partei gab auch die Losung heraus: »Wir produzieren erstklassige Maschinen, um den jungfräulichen Boden des bäuerlichen Bewusstseins gründlicher zu pflügen!«
    Das Charkower Traktorenwerk oder ChTS sollte vor der Stadt gebaut werden, auf einem leeren Feld. Die schiere Größe des Projekts und seine Zielsetzung waren atemberaubend. Für das erste Produktionsjahr stellte die Partei 287 Millionen Goldrubel bereit, 10 000 Arbeiter, 2000 Pferde, 160 000 Tonnen Eisen und 100 000 Tonnen Stahl. Aus dem Lehm, der für das Fundament ausgehoben wurde, wurden Ziegel gebrannt. Bei Baubeginn waren 24 mechanische Betonmischer und vier Steinbrecher die einzigen Maschinen vor Ort.
    Die überwiegende Mehrheit der Arbeitskräfte waren ungelernte Bauern, die gerade erst enteignet worden waren. Die meisten hatten noch nie eine andere Maschine als eine von Pferden gezogene Dreschmaschine gesehen. Die Maurer wussten zwar, wie man einen russischen Ofen baut, hatten aber keinerlei Erfahrung mit Ziegelsteingebäuden. Die Zimmermänner wussten, wie man mit der Axt eine isba baut, eine Holzhütte, aber Baracken hatten sie noch nie gebaut.
    Ein heroischer Ton ist sicher angemessen, wenn man von jenen Tagen spricht, denn so sah Bibikow wohl auch sich selbst und seine Mission. Allein die Tatsache, dass das Projekt überhaupt begonnen und dann sogar in Rekordzeit abgeschlossen wurde, ist ein Beleg für den rücksichtslosen Glauben und die fanatische Energie seiner Erbauer. Anders als spätere Generationen sowjetischer Bürokraten waren die Parteifunktionäre des ChTS keine Schreibtischmenschen. Selbst wenn man die Übertreibungen der offiziellen Berichte unberücksichtigt lässt, so ist doch gut dokumentiert, wie sie Seite an Seite mit den verwirrten, missmutigen, halb verhungerten Bauern im Schlamm arbeiteten. Und vor allem machten sie aus den Bauern nicht nur Arbeiter, sondern Menschen, die an sich glaubten. Ohne die richtigen Maschinen und gelernte Arbeiter konnte nur der reine Glaube – und reine Furcht – ein Lehmfeld in 90 Millionen Ziegelsteine verwandeln und aus diesen Ziegelsteinen ein industrielles Ungeheuer errichten. Das ganze Projekt sollte demonstrieren, wie der unerschütterliche Wille der Partei über vermeintlich unüberwindbare Widrigkeiten triumphierte.

    Bibikow und seine Familie lebten in einer großen Gemeinschaftswohnung in der Kuibyschewstraße 4 im Zentrum von Charkow, einer
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