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Winterkinder: Drei Generationen Liebe und Krieg (German Edition)

Winterkinder: Drei Generationen Liebe und Krieg (German Edition)

Titel: Winterkinder: Drei Generationen Liebe und Krieg (German Edition)
Autoren: Owen Matthews
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möglich auf die Gewinnerseite schlug.
    Die einzige verbliebene Zeugin ist Lenina, und sie beschreibt ihren Vater als edelmütigen und selbstlosen Menschen. Und selbst wenn das nicht stimmte, so trägt Leninas Wort eine eigene emotionale Wahrheit in sich. Einigen wir uns also darauf, dass eine neue Welt errichtet werden sollte und dass die Großartigkeit dieser Vision in all ihrer Frische und Schönheit Bibikow fesselte. Er und seine beiden jüngeren Brüder Jakow und Issaak stürzten sich von ganzem Herzen hinein.

    Im letzten Jahr des Bürgerkriegs schrieb sich Boris an der neu eröffneten Höheren Parteischule in Simferopol auf der Krim ein. An der Schule sollte eine neue Generation Kommissare ausgebildet werden, die das riesige Reich regieren sollten, das die Bolschewiken zu ihrer eigenen Überraschung gerade gewonnen hatten. Nach einer einjährigen Ausbildung in der Theorie des Marxismus-Leninismus und den Grundlagen der Agitation und Propaganda wurde mein Großvater im Mai 1924 Parteimitglied – ein junger Hitzkopf von 21 Jahren, der der Revolution dienen wollte, wo auch immer sie ihn brauchte.
    Wie sich herausstellen würde, waren die dringendsten Erfordernisse der Revolution recht prosaisch. Boris wurde ausgesandt, die sommerliche Tomaten- und Auberginenernte einer neuen Kolchose in Kurman Kimiltschi zu überwachen, einer ehemaligen tatarischen Siedlung in den Bergen der Halbinsel Krim, die zwei Jahrhunderte lang von Deutschen bewohnt worden war. Und dort, auf den staubigen Feldern, begegnete er seiner zukünftigen Frau Marta Platonowna Schtscherbakowa.

    Einige Wochen, bevor sie Boris kennenlernte, hatte Marta Schtscherbakowa ihre jüngere Schwester Anna sterbend auf einem Bahnsteig in Simferopol zurückgelassen.
    Die beiden Mädchen waren auf dem Weg von ihrem Heimatdorf in der Nähe von Poltawa in der westlichen Ukraine zu den Feldern auf der Krim, wo sie den Sommer über arbeiten wollten. Marta war mit ihren 23 Jahren schon weit über das Alter hinaus, in dem die Bauernmädchen ihrer Generation heirateten. Sie hatte zehn Schwestern; zwei Brüder waren bereits als Kinder gestorben. Ihr Vater Platon empfand so viele Töchter zweifellos als Fluch und dürfte froh gewesen sein, zwei von ihnen loszuwerden.

    Marta wuchs auf in einer Atmosphäre des unterschwelligen Misstrauens und der willkürlichen Brutalität eines armen, dreckigen Dorfes in der ukrainischen Steppe. Doch selbst gemessen an den harten Maßstäben des russischen Bauernlebens, fanden die Schwestern Marta streitsüchtig, eifersüchtig und schwierig. Das erklärt vielleicht, warum sie keinen Mann in ihrem Dorf gefunden hatte und warum sie und Anna für überzählig gehalten und weggeschickt wurden, um sich ihren Lebensunterhalt selbst zu verdienen. Die Zurückweisung durch den Vater war die erste und vielleicht tiefste der vielen Wunden, die ihrer Seele in ihrem Leben zugefügt wurden und deren Narben sich zu einer ausgeprägten Bösartigkeit verhärten sollten.
    Als Anna und Marta Simferopol erreichten, hatten sie schon mindestens eine Woche Strapazen hinter sich, waren in Bummelzügen und auf Lastwagen mitgefahren. Anna hatte Fieber, und inmitten der Menschenmenge auf dem glühend heißen Bahnsteig fiel sie in Ohnmacht. Die Leute drängten sich um das Mädchen, das blau angelaufen war und zitterte. Jemand schrie »Typhus!«, und Panik breitete sich aus. Marta wich von ihrer Schwester zurück, drehte sich um und lief mit den anderen davon.
    Marta war jung, verängstigt und zum ersten Mal allein nach einem Leben in der drangvollen Enge des Holzhauses der Familie. Ihre Befürchtung, in eines der berüchtigten und tödlichen Typhusspitäler in Quarantäne gesteckt zu werden, war vielleicht nur allzu berechtigt. Doch die Entscheidung, ihre Schwester zurückzulassen, sollte sie für den Rest ihres Lebens verfolgen als eine Sünde, für die sie grausam bestraft wurde. Getrieben von Angst und sicherlich auch Verwirrung, leugnete Marta, das vom Fieber geschüttelte Mädchen auf dem Bahnsteig zu kennen, und stieg mit der Menge in den ersten Zug nach Westen.
    Viele Jahre später, als Mutter und Tochter ein halbes Leben voller Gräuel hinter sich hatten, erzählte Marta Lenina davon, wie ihre Schwester wahrscheinlich gestorben war. Doch Marta erwähnte den Vorfall nur beiläufig, als sei er nicht weiter bemerkenswert. Irgendetwas war in ihr zerbrochen, oder vielleicht war es nie dagewesen.

    Schon als kleiner Junge hatte ich Angst vor meiner
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