Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Winterkinder: Drei Generationen Liebe und Krieg (German Edition)

Winterkinder: Drei Generationen Liebe und Krieg (German Edition)

Titel: Winterkinder: Drei Generationen Liebe und Krieg (German Edition)
Autoren: Owen Matthews
Vom Netzwerk:
meine dreijährige Mutter mit einer Lumpenpuppe. Meine Tante Lenina lehnte auf dem breiten Fenstersims und suchte die Straße nach der eleganten Silhouette des großen, schwarzen Packard ihres Vaters ab. Sie war zwölf Jahre alt und hatte ein rundes Gesicht mit großen, klugen Augen. Sie war modisch gekleidet in ihrem geliebten Tennisrock aus weißer Baumwolle, nachgeschneidert aus einer Moskauer Zeitschrift. Draußen, jenseits der Wipfel der Platanen in der Lermontowstraße, sah sie die goldenen Kuppeln der Kathedrale von Tschernigows mittelalterlichem Kreml.
    Am Küchentisch machte ihre Mutter Marta viel Aufhebens um ein Proviantpaket für ihren Mann Boris: gebratenes Huhn, hart gekochte Eier und eine Gurke, ein paar Kekse, eine in Zeitungspapier eingewickelte Prise Salz, alles eingeschlagen in Pergamentpapier. Boris wollte auf dem Weg zum Bahnhof kurz vorbeischauen, um sein Gepäck abzuholen, bevor er in ein Sanatorium der Partei in Gagra am Schwarzen Meer aufbrach. Es sollte sein erster Urlaub innerhalb von drei Jahren sein.
    Marta beschwerte sich, an niemanden Bestimmtes gerichtet, dass ihr Mann sich wieder einmal verspätete, so typisch, einfach typisch! Boris war so besessen von seiner Arbeit, dass er sich nicht einmal den Morgen seines Urlaubsbeginns freinehmen konnte. Für die Parteiausschüsse schien er immer mehr Zeit zu haben als für seine Familie.
    Marta war eine große, kräftige Frau, die schon füllig wurde, wie die russischen Bäuerinnen, sobald sie Kinder geboren haben. Sie trug ein Kleid aus importierter Baumwolle und war sorgfältig geschminkt. Ihre Stimme war immer nörgelig, so kam es Lenina jedenfalls vor, und ihr graute bei dem Gedanken an eine Woche allein mit ihrer Mutter ohne den mäßigenden Einfluss ihres Vaters. An der Spüle stand Warja, das leidgeprüfte Hausmädchen der Familie, ein stämmiges Landmädchen, das einen weiten sarafan mit gestärkter Schürze trug, das traditionelle Kleid der Bäuerinnen. Warja schlief in einer Art Schrank am Ende des Flures, aber sie verdiente Geld und wurde verköstigt, und so akzeptierte sie Marta und Schlimmeres. Marta verließ grummelnd die Küche, um Boris’ Gepäck zu überprüfen, das im geräumigen Flur stand, und Warja zwinkerte Lenina zu, als sich ihre Blicke trafen.
    Ljudmila – oder Mila – war ihrer großen Schwester treu ergeben wie ein kleiner Hund und ließ sie am liebsten keine Sekunde aus den Augen. Die Mädchen hatten mit ihrem Vater ein gegenseitiges Verteidigungsbündnis geschlossen, eine Komplizenschaft, die Marta missfiel und die sie nicht verstand.
    Lenina am Fenster sah das große schwarze Auto ihres Vaters um die Ecke biegen und vor dem Wohnhaus halten. Es polterte im Treppenhaus, und Boris kam in die Wohnung gestürmt. Er war ein kräftig gebauter Mann, der bereits Bauch ansetzte und dessen rasierter Schädel vorzeitig kahl wurde. Er trug bewusst proletarische Kleidung, schlichte Leinenhemden im Sommer und gestreifte Matrosenjacken im Winter, und sah viel älter aus als seine 34 Jahre. Er war schon jetzt der zweitmächtigste Mann der Stadt, Sekretär für Agitation und Propaganda des Regionalausschusses der Kommunistischen Partei, ein bekannter politischer Agitator, ein aufsteigender Stern in der Partei, Träger des Leninordens. Boris betrachtete seine Lehrjahre in der Provinzverwaltung als Vorspiel zu einem mächtigen Posten in Kiew oder sogar Moskau. Er würde es weit bringen. Nun ignorierte er die Schimpftiraden seiner Frau und küsste seine beiden Töchter schnell zum Abschied.
    »Sei brav und pass auf deine Mutter und deine Schwester auf«, flüsterte er Lenina zu.
    Er brachte seine Frau mit einer flüchtigen Umarmung zum Schweigen, griff nach dem gepackten Koffer und dem Proviantpaket und rannte die Treppe hinunter. Lenina eilte ans Fenster und sah den Fahrer ihres Vaters rauchend am Auto stehen. Er warf die Zigarette weg, als er seinen Chef die Steintreppe herunterkommen hörte. Lenina winkte eifrig, als ihr geliebter Vater in sein Auto stieg, und er winkte flüchtig zurück, es war mehr eine Wischbewegung als ein Winken. Es war das letzte Mal, dass sie ihn sah.
    Nachdem sie ihren Mann verabschiedet hatte, ging Marta über den Treppenabsatz zu den Nachbarn hinüber, um zu sehen, ob alles in Ordnung war. Sie hatte am Morgen nicht wie sonst die Tür gehört, und niemand war zum Mittagessen nach Hause gekommen. Als Marta zurückkam, fiel Lenina auf, wie blass und nervös sie war. Niemand hatte auf ihr Klingeln hin die
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher