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Winter

Winter

Titel: Winter
Autoren: Rainer Maria Rilke
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immensen Beunruhigung und habe das Gefühl, als sollte man möglichst ohne Unternehmung, auf den Fußspitzen über den Boden dieses Jahresrests gehen, um seinen Dämonen nur ja nicht aufzufallen.
    Taxis II (17. 9. 1925), 835 f.
    Mein lieber Kassner, das war es also, worauf zu meine Natur mich seit drei Jahren eindringlich vorgewarnt hat: ich bin auf eine elende und unendlich schmerzhafte Weise erkrankt, eine wenig bekannte Zellenveränderung im Blut wird zum Ausgangspunkt für die grausamsten, im Körper versprengten Vorgänge. Und ich, der ich ihm nie recht ins Gesicht sehen mochte, lerne, mich mit dem inkommensurabeln anonymen Schmerz einrichten. Lerne es schwer, unter hundert Auflehnungen, und so trüb erstaunt. Ich wollte, daß Sie von dieser meiner Lage, die nicht die vorübergehendste sein wird, wissen. Unterrichten Sie die theure Fürstin davon, soviel als Sie es für gut halten.
    Kassner (15. 12. 1926), 169
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    Komm du, du letzter, den ich anerkenne,
heilloser Schmerz im leiblichen Geweb:
wie ich im Geiste brannte, sieh, ich brenne
in dir; das Holz hat lange widerstrebt,
der Flamme, die du loderst, zuzustimmen,
nun aber nähr' ich dich und brenn in dir.
Mein hiesig Mildsein wird in deinem Grimmen
ein Grimm der Hölle nicht von hier.
Ganz rein, ganz planlos frei von Zukunft stieg
ich auf des Leidens wirren Scheiterhaufen,
so sicher nirgends Künftiges zu kaufen
um dieses Herz, darin der Vorrat schwieg.
Bin ich es noch, der da unkenntlich brennt?
Erinnerungen reiß ich nicht herein.
O Leben, Leben: Draußensein.
Und ich in Lohe. Niemand der mich kennt.
    Werke II , 511
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    Rose, oh reiner Widerspruch, Lust,
Niemandes Schlaf zu sein unter soviel
Lidern.
    Werke II , 185
    Das XIII . Sonett an Orpheus
    Sei allem Abschied voran, als wäre er hinter
dir, wie der Winter, der eben geht.
Denn unter Wintern ist einer so endlos Winter,
daß, überwinternd, dein Herz überhaupt übersteht.
    Sei immer tot in Eurydike –, singender steige,
preisender steige zurück in den reinen Bezug.
Hier, unter Schwindenden, sei, im Reiche der Neige,
sei ein klingendes Glas, das sich im Klang schon zerschlug.
    Sei – und wisse zugleich des Nicht-Seins Bedingung,
den unendlichen Grund deiner innigen Schwingung,
daß du sie völlig vollziehst dieses einzige Mal.
    Zu dem gebrauchten sowohl, wie zum dumpfen und stummen
Vorrat der vollen Natur, den unsäglichen Summen,
zähle dich jubelnd hinzu und vernichte die Zahl.
    Werke I , 759 f.

Nachwort
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    Im Frühling beschwor Rainer Maria Rilke Vogel und Schmetterling, im Sommer Rose und Frucht, im Herbst den Sturm – was aber ist ihm das Sinnbild des Winters? In einem Brief an Sidonie von Nádherný schreibt Rilke: »… der Winter ist, auch heuer wieder, die Zeit meiner réclusion, wie ein Baum gehe ich nach innen, außen ganz Schweigsamkeit, Stamm und Geäst, mit nicht dem kleinsten Wort-Blättchen an mir.« Während das Abwerfen des Laubes im Herbst noch ein letztes bewegtes Spektakel bot, bedeutet der Winter die reine Eingeschlossenheit, die Verlegung allen Fortschritts nach innen. Um diese höchste Konzentration zu erreichen, wünscht der Dichter sich – nun die gängigen Metaphern der Jahreszeiten hinter sich lassend: »Ununterbrochenheit und Innerlichkeit, die das Gestein hat im Innern der Berge, wenn's sich zum Kristall zusammennimmt.«
    Die äußeren Voraussetzungen für ein solches Gelingen beschreibt er 1913 in einem Brief an Marie von Thurn und Taxis: »Dazu gehört dann die Möglichkeit, weite einsame Wege zu machen und eben der Mensch, der schwesterliche!!! (ach ach) der dann das Haus besorgt und gar keine Liebe hat oder so viel, daß er nichts verlangt, als, wirkend und verhütend, an der Grenze des Unsichtbaren dazusein. Hier der Inbegriff meiner Wünsche für 1914, 15, 16, 17 u. s. f.« So bescheiden diese Wünsche gemeint waren, die Geschichte war gegen sie, und Rilke sollte noch lange warten, bis sein inneres Bergwerk die Duineser Elegien als ersehnte Diamanten freigab.
    Aber auch in Friedenszeiten wurde die winterliche Einkehr regelmäßig gestört – durch das Weihnachtsfest. Der
Prager Junge René hatte es als einen sicheren Höhepunkt seiner nicht immer einfachen Kindheit und Jugend heiß verehrt. Von dieser Begeisterung zehrte der junge Mann, als er sich im Alter von 21
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