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Winter

Winter

Titel: Winter
Autoren: Rainer Maria Rilke
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schönen Gebärde des breiten Gebetes. Es giebt nichts Weiseres als den Kreis. Der Gott, der uns in den Himmeln entfloh, aus der Erde wird er uns wiederkommen. Und, wer weiß, vielleicht graben gerade Sie einmal das Tor …« Der Mann mit dem Spaten sagte: »Aber das ist ein Märchen.« »In unserer Stimme«, erwiderte ich leise, »wird Alles Märchen, denn es kann sich ja in ihr nie begeben haben.« Der Mann schaute eine Weile vor sich hin. Dann zog er mit heftigen Bewegungen den Rock an und fragte: »Wir können ja wohl zusammengehen?« Ich nickte: »Ich gehe nach Hause. Es wird wohl derselbe Weg sein. Aber wohnen Sie nicht hier?« Er trat aus der kleinen Gittertür, legte sie sanft in ihre klagenden Angeln zurück und entgegnete: »Nein.«
    Nach ein paar Schritten wurde er vertraulicher: »Sie haben ganz recht gehabt vorhin. Es ist seltsam, daß sich jemand findet, der das tun mag, das da draußen. Ich habe früher nie daran gedacht. Aber jetzt, seit ich älter werde, kommen mir manchmal Gedanken, eigentümliche Gedan
ken, wie der mit dem Himmel, und noch andere. Der Tod. Was weiß man davon? Scheinbar alles und vielleicht nichts. Oft stehen die Kinder (ich weiß nicht, wem sie gehören) um mich, wenn ich arbeite. Und mir fällt gerade so etwas ein. Dann grabe ich wie ein Tier, um alle meine Kraft aus dem Kopfe fortzuziehen und sie in den Armen zu verbrauchen. Das Grab wird viel tiefer als die Vorschrift verlangt, und ein Berg Erde wächst daneben auf. Die Kinder aber laufen davon, da sie meine wilden Bewegungen sehen. Sie glauben, daß ich irgendwie zornig bin.« Er dachte nach. »Und es ist ja auch eine Art Zorn. Man wird abgestumpft, man glaubt es überwunden zu haben, und plötzlich … Es hilft nichts, der Tod ist etwas Unbegreifliches, Schreckliches.«
    Wir gingen eine lange Straße unter schon ganz blätterlosen Obstbäumen, und der Wald begann, uns zur Linken, wie eine Nacht, die jeden Augenblick auch über uns hereinbrechen kann. »Ich will Ihnen eine kleine Geschichte berichten«, versuchte ich, »sie reicht gerade bis an den Ort.« Der Mann nickte und zündete sich seine kurze, alte Pfeife an. Ich erzählte:
    Â»Es waren zwei Menschen, ein Mann und ein Weib, und sie hatten einander lieb. Liebhaben, das heißt, nichts annehmen, von nirgends, alles vergessen und von einem Menschen alles empfangen wollen, das was man schon besaß und alles andere. So wünschten es die beiden Menschen gegenseitig. Aber in der Zeit, im Tage, unter den Vielen, wo alles kommt und geht, oft ehe man eine wirkliche Beziehung dazu gewinnt, läßt sich ein solches Liebhaben gar nicht durchführen, die Ereignisse kommen von allen Seiten, und der Zufall öffnet ihnen jede Tür.
    Deshalb beschlossen die beiden Menschen aus der Zeit in die Einsamkeit zu gehen, weit fort vom Uhrenschlagen
und von den Geräuschen der Stadt. Und dort erbauten sie sich in einem Garten ein Haus. Und das Haus hatte zwei Tore, eines an seiner rechten, eines an seiner linken Seite. Und das rechte Tor war des Mannes Tor, und alles Seine sollte durch dasselbe in das Haus einziehen. Das linke aber war das Tor des Weibes, und was ihres Sinnes war, sollte durch seinen Bogen eintreten. So geschah es. Wer zuerst erwachte am Morgen, stieg hinab und tat sein Tor auf. Und da kam dann bis spät in die Nacht gar manches herein, wenn auch das Haus nicht am Rande des Weges lag. Zu denen, die zu empfangen verstehen, kommt die Landschaft ins Haus und das Licht und ein Wind mit einem Duft auf den Schultern und viel anderes mehr. Aber auch Vergangenheiten, Gestalten, Schicksale traten durch die beiden Tore ein, und allen wurde die gleiche, schlichte Gastlichkeit zuteil, so daß sie meinten, seit immer in dem Heidehaus gewohnt zu haben. So ging es eine lange Zeit fort, und die beiden Menschen waren sehr glücklich dabei. Das linke Tor war etwas häufiger geöffnet, aber durch das rechte traten buntere Gäste ein. Vor diesem wartete auch eines Morgens der Tod. Der Mann schlug seine Tür eilends zu, als er ihn bemerkte, und hielt sie den ganzen Tag über fest verschlossen. Nach einiger Zeit tauchte der Tod vor dem linken Eingang auf. Zitternd warf das Weib das Tor zu und schob den breiten Riegel vor. Sie sprachen nicht miteinander über dieses Ereignis, aber sie öffneten seltener die beiden Tore und suchten mit dem auszukommen, was im
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