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Winter

Winter

Titel: Winter
Autoren: Rainer Maria Rilke
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Hause war. Da lebten sie nun freilich viel ärmlicher als vorher. Ihre Vorräte wurden knapp, und es stellten sich Sorgen ein. Sie begannen beide schlecht zu schlafen, und in einer solchen wachen, langen Nacht vernahmen sie plötzlich zugleich ein seltsames, schlürfendes und pochendes Geräusch. Es war hinter der Wand des Hauses, gleich weit
entfernt von den beiden Toren, und klang, als ob jemand begänne Steine auszubrechen, um ein neues Tor mitten in die Mauer zu bauen. Die beiden Menschen taten in ihrem Schrecken dennoch, als ob sie nichts Besonderes vernähmen. Sie begannen zu sprechen, lachten unnatürlich laut, und als sie müde wurden, war das Wühlen in der Wand verstummt. Seither bleiben die beiden Tore ganz geschlossen. Die Menschen leben wie Gefangene. Beide sind kränklich geworden und haben seltsame Einbildungen. Das Geräusch wiederholt sich von Zeit zu Zeit. Dann lachen sie mit ihren Lippen, während ihre Herzen fast sterben vor Angst. Und sie wissen beide, daß das Graben immer lauter und deutlicher wird, und müssen immer lauter sprechen und lachen mit ihren immer matteren Stimmen.«
    Ich schwieg. »Ja, ja, –« sagte der Mann neben mir, »so ist es, das ist eine wahre Geschichte.«
    Â»Diese habe ich in einem alten Buche gelesen«, fügte ich hinzu, »und da ereignete sich etwas sehr Merkwürdiges dabei. Hinter der Zeile, darin erzählt wird, wie der Tod auch vor dem Tore des Weibes erschien, war mit alter, verwelkter Tinte ein kleines Sternchen gezeichnet. Es sah aus den Worten wie aus Wolken hervor, und ich dachte einen Augenblick, wenn die Zeilen sich verzögen, so könnte offenbar werden, daß hinter ihnen lauter Sterne stehen, wie es ja wohl manchmal geschieht, wenn der Frühlingshimmel sich spät am Abend klärt. Dann vergaß ich des unbedeutenden Umstandes ganz, bis ich hinten im Einband des Buches dasselbe Sternchen, wie gespiegelt in einem See, in dem glatten Glanzpapier wiederfand, und nah unter demselben begannen zarte Zeilen, die wie Wellen in der blassen spiegelnden Fläche verliefen. Die Schrift war an vielen Stellen undeutlich geworden, aber es gelang mir doch, sie fast ganz zu entziffern. Da stand etwa:
    â€ºIch habe diese Geschichte so oft gelesen, und zwar in allen möglichen Tagen, daß ich manchmal glaube, ich habe sie selbst, aus der Erinnerung, aufgezeichnet. Aber bei mir geht es im weiteren Verlaufe so zu, wie ich es hier niederschreibe. Das Weib hatte den Tod nie gesehen; arglos ließ es ihn eintreten. Der Tod aber sagte etwas hastig und wie einer, welcher kein gutes Gewissen hat: ›Gieb das deinem Mann.‹ Und er fügte, als das Weib ihn fragend anblickte, eilig hinzu: ›Es ist Samen, sehr guter Samen.‹ Dann entfernte er sich ohne zurückzusehen. Das Weib öffnete das Säckchen, welches er ihr in die Hand gelegt hatte; es fand sich wirklich eine Art Samen darin, harte, häßliche Körner. Da dachte das Weib: der Same ist etwas Unfertiges, Zukünftiges. Man kann nicht wissen, was aus ihm wird. Ich will diese unschönen Körner nicht meinem Manne geben, sie sehen gar nicht aus wie ein Geschenk. Ich will sie lieber in das Beet unseres Gartens drücken und warten, was sich aus ihnen erhebt. Dann will ich ihn davorführen und ihm erzählen, wie ich zu dieser Pflanze kam. Also tat das Weib auch. Dann lebten sie dasselbe Leben weiter. Der Mann, der immer daran denken mußte, daß der Tod vor seinem Tore gestanden hatte, war anfangs etwas ängstlich, aber da er das Weib so gastlich und sorglos sah wie immer, tat auch er bald wieder die breiten Flügel seines Tores auf, so daß viel Leben und Licht in das Haus hereinkam. Im nächsten Frühjahr stand mitten im Beete zwischen den schlanken Feuerlilien ein kleiner Strauch. Er hatte schmale, schwärzliche Blätter, etwas spitz, ähnlich denen des Lorbeers, und es lag ein sonderbarer Glanz auf ihrer Dunkelheit. Der Mann nahm sich täglich vor, zu fragen, woher diese Pflanze stamme. Aber er unterließ es täglich. In einem verwandten Gefühl verschwieg auch das Weib von einem Tag zum andern die Aufklärung. Aber die
unterdrückte Frage auf der einen, die niegewagte Antwort auf der anderen Seite, führte die beiden Menschen oft bei diesem Strauch zusammen, der sich in seiner grünen Dunkelheit so seltsam von dem Garten unterschied. Als das nächste Frühjahr kam, da
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