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Winter

Winter

Titel: Winter
Autoren: Rainer Maria Rilke
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beschäftigten sie sich, wie mit den anderen Gewächsen, auch mit dem Strauch, und sie wurden traurig, als er, umringt von lauter steigenden Blüten, unverändert und stumm, wie im ersten Jahr, gegen alle Sonne taub, sich erhob. Damals beschlossen sie, ohne es einander zu verraten, gerade diesem im dritten Frühjahr ihre ganze Kraft zu widmen, und als dieses Frühjahr erschien, erfüllten sie leise und Hand in Hand, was sich jeder versprochen hatte. Der Garten umher verwilderte, und die Feuerlilien schienen blasser als sonst zu sein. Aber einmal, als sie nach einer schweren, bedeckten Nacht in den Morgengarten, den stillen, schimmernden traten, da wußten sie: Aus den schwarzen, scharfen Blättern des fremden Strauches war unversehrt eine blasse, blaue Blüte gestiegen, welcher die Knospenschalen schon an allen Seiten enge wurden. Und sie standen davor vereint und schweigend, und jetzt wußten sie sich erst recht nichts zu sagen. Denn sie dachten: Nun blüht der Tod, und neigten sich zugleich, um den Duft der jungen Blüte zu kosten. – Seit diesem Morgen aber ist alles anders geworden in der Welt. So stand es in dem Einband des alten Buches«, schloß ich.
    Â»Und wer das geschrieben hat?« drängte der Mann.
    Â»Eine Frau, nach der Schrift«, antwortete ich. »Aber was hätte es geholfen, nachzuforschen. Die Buchstaben waren sehr verblaßt und etwas altmodisch. Wahrscheinlich war sie schon längst tot.«
    Der Mann war ganz in Gedanken. Endlich bekannte er: »Nur eine Geschichte, und doch rührt es einen so an.«
»Nun, das ist, wenn man selten Geschichten hört«, begütigte ich. »Meinen Sie?« Er reichte mir seine Hand, und ich hielt sie fest. »Aber ich möchte sie gerne weitersagen. Das darf man doch?« Ich nickte. Plötzlich fiel ihm ein: »Aber ich habe niemanden. Wem sollte ich sie auch erzählen?« »Nun, das ist einfach; den Kindern, die Ihnen manchmal zusehen kommen. Wem sonst?«
    Die Kinder haben auch richtig die letzten drei Geschichten gehört. Allerdings, die von den Abendwolken wiederholte, nur teilweise, wenn ich gut unterrichtet bin. Die Kinder sind ja klein und darum von den Abendwolken viel weiter als wir. Doch das ist bei dieser Geschichte ganz gut. Trotz der langen, wohlgesetzten Rede des Hans, würden sie erkennen, daß die Sache unter Kindern spielt, und meine Erzählung kritisch, als Sachverständige, betrachten. Aber es ist besser, daß sie nicht erfahren, mit welcher Anstrengung und wie ungeschickt wir die Dinge erleben, die ihnen so ganz mühelos und einfach geschehen.
    Werke IV (Geschichten vom lieben Gott), 357-367
    Â 
    Â 
    Unstete Waage des Lebens
immer schwankend, wie selten
wagt ein geschicktes Gewicht
anzusagen die immerfort andre
Last gegenüber.

Drüben, die ruhige
Waage des Todes.
Raum auf den beiden
verschwisterten Schalen.
Gleichviel Raum. Und daneben,
ungebraucht,

alle Gewichte des Gleichmuts,
glänzen, geordnet.
    Werke II , 171
    Schluszstück
    Der Tod ist groß.
Wir sind die Seinen
lachenden Munds.
Wenn wir uns mitten im Leben meinen,
wagt er zu weinen
mitten unter uns.
    Werke I , 477
    Es war am Abend, im Winter, wenn ich nicht irre, in der Stadtwohnung. Der Tisch stand in meinem Zimmer, zwischen den Fenstern, und es war keine Lampe im Zimmer, als die, die auf meine Blätter schien und auf Mademoiselles Buch; denn Mademoiselle saß neben mir, etwas zurückgerückt, und las. Sie war weit weg, wenn sie las, ich weiß nicht, ob sie im Buche war; sie konnte lesen, stundenlang, sie blätterte selten um, und ich hatte den Eindruck, als würden die Seiten immer voller unter ihr, als schaute sie Worte hinzu, bestimmte Worte, die sie nötig hatte und die nicht da waren. Das kam mir so vor, während ich zeichnete. Ich zeichnete langsam, ohne sehr entschiedene Absicht, und sah alles, wenn ich nicht weiter wußte, mit ein wenig nach rechts geneigtem Kopfe an; so fiel mir immer am raschesten ein, was noch fehlte. Es waren Offiziere zu Pferd, die in die Schlacht ritten, oder sie waren mitten drin, und das war viel einfacher, weil dann fast nur der Rauch zu
machen war, der alles einhüllte. Maman freilich behauptet nun immer, daß es Inseln gewesen waren, was ich malte; Inseln mit großen Bäumen und einem Schloß und einer Treppe und Blumen am Rand, die sich spiegeln sollten im Wasser. Aber ich glaube, das erfindet sie, oder es muß
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