Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Winter

Winter

Titel: Winter
Autoren: Rainer Maria Rilke
Vom Netzwerk:
ihm vorgehen? Diese Fünf oder Sechs, wenn der Himmel es nur
mit ihnen versuchen wollte, die Erde hats falsch gemacht, trotz aller Kirchenmusik und trotz des schönen Grau in ihrer Weihnachtsluft. Im Zurückgehen merke ich, daß draußen, bei den abgestellten Tafeln, einige andere Sandwiches-Männer stehn, die offenbar nichts auf Erinnerungen geben. Aber für Heilige, wenn sie einmal Lust hätten, sich ins Gedräng zu versuchen, wärs nicht eine herrliche Verkleidung? Ach ich wollte die sechs draußen wären zur selben Zeit die sechs drin in der Kirche gewesen, mittels einer solchen Herablassung; das war die Art zu sehen durch die das Mittelalter die Welt in Ordnung rückte.
    Werke VI , 1141-1143
    Meine liebe gute Mama,
    wir haben nie viel geredet unter dem Christbaum. So soll es auch heute sein, zumal das Reden auf dem Papier nicht einmal die Illusion von Nähe hervorruft. Und die sollst Du haben, d. h. mehr als die Illusion, – die Sicherheit, daß ich Dir nahe bin an diesem Abend, den Du mir, seit ich ihn zum ersten Mal erlebte, geschmückt und durch Beweise Deiner Liebe und Güte reich gemacht hast! Und Du sollst mich nahe empfinden, weil ich Dir mein neues Buch schenke und auf diese Weise mit dem Besten, was ich bis jetzt errungen habe und geworden bin, zu Dir komme, mit viel mehr als nur mit meinem Körper und Gesicht, mit viel mehr als meiner Seele: – mit einer Potenz meiner Kraft und Liebe, mit einem Teil meiner tiefen Frömmigkeit, mit einem Stück meiner Zukunft. – Das Buch »Vom lieben Gott« … ist alles das. Nimm es gut auf und laß es das vollbringen am Heiligen Abend, was ich hier wünsche. Erkenne mich darin, liebe Mama.
    Ich sage nicht mehr, – ich lege nur einfach mein Buch
unter den kleinen Christbaum, oder dort auf das kleine Tischchen, wo die singenden Engel stehen und wo Du mir im vorigen Jahr die Fülle Deiner Gaben ausgebreitet hast. Siehst Du, man kann es ruhig aussprechen, denn ich bin wieder da, wie im Vorjahr, nur nicht gehetzt, nicht zu bestimmter Stunde kommend oder forteilend, ich bin an diesem Abend ganz leise überall in Deiner Stube, ohne Hast und voll teilnehmender Liebe. Und ich gehe nur fort, wenn Du anfängst traurig zu sein … Aber das tust Du nicht, nichtwahr – denn: Mein Buch ist voll Zuversicht und Licht!
    Außerdem, mehr als Scherz, noch eine kleine Gabe: Ein Büchlein von Josef Victor von Scheffel zur Erinnerung an unsere Fahrt nach Toblino! Nimms gut auf und fühle tausend Küsse Deines 
  René. 
    Und seine Gegenwart!
    Weihnachtsbriefe an die Mutter (22. 12. 1900), 9 f.
    Gestern war der Nikolo-Abend und ich wollte, es hätte auch zu der kleinen Ruth der wunderschöne Engel kommen können, an den die Kinder in Janovic heute noch athemlos denken. / Ich werde vielleicht noch einen Vortrag in Hannover haben und einen in Oldenburg. Aber die Hauptsache wird sein, meinem kleinen Mädchen ein Weihnachten vorzubereiten, das, (wenn es auch weit hinter dem zurücksteht, mit dem mein guter Vater mich in meiner Kindheit jährlich bis ins Herz hinein zu blenden wußte) doch hell genug ist, um uns aus ihren großen Augen zurückzustrahlen.
    Nádherný (7. 12. 1907), 54
    Rom, Villa Strohl = Fern,
    am 22. Dezember 1903.
    Meine Freundin,
    nach vielen langen Regentagen mit schweren, fallenden Himmeln hebt hier eine Art von Frühling an; Duft kommt aus den Büschen und die Lorbeerbäume, die der Mittag erwärmt, riechen nach ersten Sommertagen. Es giebt Sträucher, an denen die langen Kätzchen hängen, und andere Sträucher, die morgen blühen werden, wenn die Nacht so sanft ist wie diese letzten Nächte, die im wachsenden Monde langsam und milde vergangen sind. Und dabei ist Weihnacht nah; die Leute sagen es wenigstens, und kommt man abends in die überhellen Strassen der Stadt, so ist das Gedränge gross und Schaufenster schimmern. Hier aber in dem grossen Garten, in dem wir wohnen, wird nicht Weihnacht sein; ein Tag wird kommen, hell und strahlend, und wird vergehen und ein Frühlings=Abend wird sein, – ein Abend mit fern dämmernden Himmeln, aus denen plötzlich alle Sterne brechen, alle die vielen Sterne, die über südlichen Gärten leben.
    Für uns aber wird dieser Abend nur eine stille Stunde sein, nichts mehr; wir werden in dem entlegenen
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher