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Winter

Winter

Titel: Winter
Autoren: Rainer Maria Rilke
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kleinen Gartenhaus sitzen und an jene denken, die Weihnacht haben; an unsere kleine liebe Ruth und an uns, als ob wir selbst noch irgendwo die Kinder wären, die wir einmal waren, – die wartenden, frohbangen Weihnachtskinder, auf die die grossen Überraschungen zukommen wie Engel aus Innen und Außen; die Kinder, die das Dunkel jener Abende, die dem einen Abend vorangingen, fürchteten und liebten; die fühlten, wie klein in jenen Dezembertagen, die das Fest vorbereiteten, der Kreis der Lampe war und wie immer geheimnisvoller ringsum die Stube sich verlor, so dass man gar nicht sagen konnte, wo ihre Wände waren und ob
man nicht an einem runden Tische mitten im Walde sass … Bis dann alles Dunkel sich in Glanz verwandelte, so dass man auch die geringsten Dinge glänzen sah.
    Aber damit alles dies geschehen konnte, mussten grosse Winde gewesen sein, lange Nächte, in denen der Sturm alles war, musste man überstanden haben, – Nächte und Tage, die verhangen waren, halbhell und schwach, wie ein Verzögern des Morgens nur, bis an den frühen Abend hin; alles, bis zu jenem grossen stillen Schneefall, der fiel und fiel und machte, dass die Welt sich leiser bewegte, der Tag geräuschloser lief und Nacht heimlicher kam – –
    Aber da wir so nördlicher Dinge gedenken, die mit unserem Kindsein sehr verflochten sind, sind wir Ihnen, meine liebe Freundin mit dem Herzen nah: wir stellen uns das kleine Haus vor, in dem Sie jetzt wohnen und schreiben, bei der Lampe an einem schönen Buche schreiben, das wir einmal lesen werden; und stellen uns vor, dass es tief und allein im grossen Winter liegt ihr kleines Haus, in dem die lieben ererbten Möbel und die gewohnten Dinge freundlich stehen, und dass es eine echte, wirkliche Weihnacht haben wird. Und zu dieser Weihnacht senden wir viele, viele Wünsche hin!
    Ich denke viel an Sie, meine Freundin, und komme bald mehr von mir erzählen. Dieses sollte nur ein Grüssen sein und ein Zeichen von Liebe und Nähe.
  Ihr:
  Rainer Maria Rilke.
    Key (22. 12. 1903), 42 f.
    Â 
    Â 
    Capri, Villa Discopoli, am 19. Dez. abends
    â€¦ kann man am Abend Weihnachten einen Brief lesen; aber vor allem: wie soll man vier Tage vorher einen schreiben, der an diesem Abend gelesen werden kann? Ich schreibe nicht an Ruth. Nicht ich bin es ja, der zu ihr reden soll, auch Du bist es nicht, obwohl Du neben ihr sein wirst und ihr feines weiches Haar an Deiner Wange fühlen wirst, wenn Ihr zusammen in den Baum hineinschauen werdet, der zu Euch reden soll, zu ihr vor allem, dem lieben, lieben Kind, das nun, wenn Du sie wiedersiehst, schon ein wenig weiter an Dir emporreichen wird und tiefer in Deine Hand hinein. Sieh sie gut wieder … sieh sie nicht allein mütterlich wieder, sieh sie auch mit Deinen ernsten Arbeitsaugen an: dann wirst Du ganz froh sein können. Vor diesen Augen wird dieser Abend vollkommen sein, und es wird Dir, wenn Du Dich nicht verwirren läßt, nicht befremdlich und nicht bange scheinen, daß ich nicht wirklich neben Euch stehe: … nichts, nichts kann mich ja hindern, um Euch zu sein, so daß Ihr mich empfindet; und wenn ich wirklich da war sonst, so war doch (von jenem ersten Weihnachtsabend in Westerwede abgesehen) immer vieles von mir, was nur vorwurfsvoll dabeistand, was, wenn auch nicht im letzten Augenblick, so doch noch eine Stunde vorher, gerne hätte allein sein mögen, fern, weiß Gott wo. Dieses Gesicht, das Deinem begegnete und von Ruths lieben kleinen Händen manchmal genommen und an eine feste, warme, frohe Wange gehalten worden war, dieses Gesicht fühlte sich so unfertig auch an jenem Abend, und war es ja auch. Dieses Gesicht müßte in Einsamkeit sein, viel hinter seinen Händen, viel im Dunkel. Es müßte für seine Gedanken da sein und aus seinen Gedanken hinausschauen zu niemandem ein Stück Himmel findend, einen Baum, einen Weg, etwas Einfaches, wobei es anfangen kann, et
was, was ihm noch nicht zu schwer ist; wie oft, wenn Ihr es ansaht … ist es ein in seiner Unfertigkeit zerstreutes gewesen, eines, das nicht tief genug nach innen und nicht weit genug nach außen gegangen war, ein auf halbem Wege stehen gebliebenes Gesicht, wie ein nur teilweise belegter Spiegel, an manchen Stellen spiegelnd, an anderen durchsichtig, und Ihr habt nie darin die Größe Eueres Vertrauens und das Ganze Euerer Liebe
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