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Winter

Winter

Titel: Winter
Autoren: Rainer Maria Rilke
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hinanmüßte, und endlich in all dem Ungewissen, nicht Vorstellbaren, nicht Möglichen: etwas wirkliches, eine Wirklichkeit, die in unerhörter Weise mit dem Wunderbaren verbunden, von ihm kaum zu unterscheiden war und doch wirklich. Und danach endlich, allmählich sich ausbreitend, eine Erleichterung, die erst wie jene Erleichterung aufgenommen wurde, die kommt, wenn ein Schmerz aussetzt, und doch eine ganz andere, andauernde war, wie sich später zeigte. Und nun plötzlich ein Leben, auf dem man stehen konnte; nun trug es einen und wußte von einem, während es trug. Was wäre ich ohne die Stille, die damals in mir entstand; was ohne dieses
ganze Erlebnis, in dem Wirklichkeit und Wunder dasselbe geworden waren; was ohne diese Wochen der Hingabe, bei der ich zum ersten Mal nicht verlor; was ohne diese schlichten Dienste, die eine Bereitschaft in mir aufweckten, von der ich nicht wußte; was ohne diese Nachtwachen: wenn die Nacht, die Winternacht, mir kalt auf den Augen lag, die ich schloß, einen fernen Stern draußen durch das Rankenwerk der Weinlaube mit hereinziehend in dieses Schließen; wenn einfach Stille war, Stille von jener größten Stille, die ich noch nicht kannte, während vor diesem Hintergrund die kleinsten der unbegreiflich neuen Geräusche sich mit klarer Deutlichkeit abzeichneten.
    Kaum je hat einer, der nicht arbeitete, mit so viel Recht und Eifer, mit so inständigem Stillhalten gewacht, wie ich damals, da, wie ich jetzt weiß, an mir gearbeitet wurde. Wie eine Pflanze, die ein Baum werden soll, ward ich damals aus dem kleinen Gefäß herausgenommen, vorsichtig, während Erde abfloß und etwas Licht zu meinen Wurzeln kam, und wurde endgültig eingesetzt an meine Stelle, dort, wo ich stehen bleiben sollte bis in mein Alter, in die große, ganze, wirkliche Erde.
    Und als ich dann am zwölften weiterdachte, und dachte, daß dann Weihnachten kam, da fiel mir nur dieses Weihnachten ein, die Diele nur, die so groß und helldunkel war bis an den hellen, großen Baum heran, zu dem Du eine Weile herantratest, schnell, mit einer Unsicherheit, die wieder ganz mädchenhaft war, mädchenhafter als alles, das kleine Köpfchen an Dein schönes Gesicht haltend und mit ihm in den Glanz hinein, den Ihr beide nicht sehen konntet, jedes von seinem eigenen Leben erfüllt und von dem des anderen.
    Da erst merkte ich, daß mir dieses Weihnachten noch da war und nicht wie eines, das einmal war und vergangen
ist, sondern wie ein immerwährendes, ewiges Weihnachtsfest, zu dem das innere Gesicht sich hinwenden kann, sooft es seiner bedarf. Auf einmal war Freude und Seligkeit und Erwartung der anderen klein geworden dahinter; als wären das mehr meines treuen guten Vaters Weihnachten gewesen, seines besorgten, fürsorgenden Herzens eigenstes Fest. Dieses aber war meines: in seinem Helldunkel, seiner Stille und Unwiederholbarkeit …
    Aus diesem allem entstand mir auch die Fähigkeit, dieses Weihnachten einmal allein und doch nicht bange oder traurig zu sein. Nun schreibe ich nicht weiter, sondern denke nur noch, und Ihr werdet es fühlen …
    Briefe I (Clara Rilke, 19. 12. 1906), 154-159
    Weihnachten ist vorbei, und ein Jahr hat begonnen mit einer hohen, klaren, sternblanken Nacht; ich habe es kaum bemerkt, kaum etwas Festlichkeit gefühlt, und keine Ruhe. Es waren unfertige und provisorische äußere Zustände, in die ich hier kam. Influenza gesellte sich und das fortwährend geänderte Wetter. Und die Anpassung und das Umdenken und das Fortgenommensein aus der Arbeitsnähe, die Furuborg für mich war. Und das Quälende deutscher Umgebung. In alledem war es schwer, Weihnacht zu leben, Glocken zu hören, Ferne, Stille und Kindheit; schwer, das Neue aufzufassen, das Ruth ist, – schwer, ihrem lieben und prüfenden Entgegenkommen greifbar da zu sein; allzuschwer zu lieben, alle jene Aufmerksamkeit, Kraft, Güte und Hingabe zu haben, aus der Liebe besteht. Rathlos, das war alles was ich war, unfähig inmitten aller äußeren Unruhe, jemand zu sein, der zu sein, der ich werde. Zerstreut war ich wenn die »kleine Stimme« zu mir sprach, nicht bereit dafür und nicht sicher genug. Und so hab ich mir auch
aus diesem, zu dem Dein lieber Gruß kam, nichts genommen. Иэмомай! Das hatte ich mir auf einen Zettel geschrieben und es lag laut vor mir auf meinem römischen
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