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Winter

Winter

Titel: Winter
Autoren: Rainer Maria Rilke
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›Stundenbuchs‹, soll eröffnet werden, ist mir ein nicht weniger fühlbares Geschenk als alles, wodurch die Insel unsere Verbindung geehrt und befestigt hat.
    K. Kippenberg (29. 12. 1918), 320 f.
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    Paris, am zweiten Weihnachtstage 1908
    Sie sollen wissen, lieber Herr Kappus, wie froh ich war, diesen schönen Brief von Ihnen zu haben. Die Nachrichten, die Sie mir geben, wirklich und aussprechbar, wie sie nun wieder sind, scheinen mir gut, und je länger ichs bedachte, desto mehr empfand ich sie als tatsächlich gute. Dieses wollte ich Ihnen eigentlich zum Weihnachtsabend schreiben; aber über der Arbeit, in der ich diesen Winter vielfach und ununterbrochen lebe, ist das alte Fest so schnell herangekommen, daß ich kaum mehr Zeit hatte, die nötigsten Besorgungen zu machen, viel weniger zu schreiben.
    Aber gedacht hab ich an Sie in dieses Festtagen oft und mir vorgestellt, wie still Sie sein müssen in Ihrem einsamen Fort zwischen den leeren Bergen, über die sich jene großen südlichen Winde stürzen, als wollten Sie sie in großen Stücken verschlingen.
    Die Stille muß immens sein, in der solche Geräusche und Bewegungen Raum haben, und wenn man denkt, daß zu allem noch des entferntesten Meeres Gegenwart hinzukommt und mittönt, vielleicht als der innerste Ton in dieser vorhistorischen Harmonie, so kann man Ihnen nur wünschen, daß Sie vertrauensvoll und geduldig die großartige Einsamkeit an sich arbeiten lassen, die nicht mehr aus Ihrem Leben wird zu streichen sein; die in allem, was Ihnen zu erleben und zu tun bevorsteht, als ein anonymer Einfluß fortgesetzt und leise entscheidend wirken wird, etwa wie in uns Blut von Vorfahren sich unablässig bewegt und sich mit unserm eigenen zu dem Einzigen, nicht Wiederholbaren zusammensetzt, das wir an jeder Wendung unseres Lebens sind.
    Ja: ich freue mich, daß Sie diese feste, sagbare Existenz mit sich haben, diesen Titel, diese Uniform, diesen Dienst, alles dieses Greifbare und Beschränkte, das in solchen Um
gebungen mit einer gleich isolierten nicht zahlreichen Mannschaft Ernst und Notwendigkeit annimmt, über das Spielerische und Zeithinbringende des militärischen Berufs hinaus eine wachsame Verwendung bedeutet und eine selbständige Aufmerksamkeit nicht nur zuläßt, sondern geradezu erzieht. Und daß wir in Verhältnissen sind, die an uns arbeiten, die uns vor große natürliche Dinge stellen von Zeit zu Zeit, das ist alles, was not tut.
    Auch die Kunst ist nur eine Art zu leben, und man kann sich, irgendwie lebend, ohne es zu wissen, auf sie vorbereiten; in jedem Wirklichen ist man ihr näher und benachbarter als in den unwirklichen halbartistischen Berufen, die, indem sie eine Kunstnähe vorspiegeln, das Dasein aller Kunst praktisch leugnen und angreifen, wie etwa der ganze Journalismus es tut und fast alle Kritik und dreiviertel dessen, was Literatur heißt und heißen will. Ich freue mich, mit einem Wort, daß Sie die Gefahr, dahinein zu geraten, überstanden haben und irgendwo in einer rauhen Realität einsam und mutig sind. Möchte das Jahr, das bevorsteht, Sie darin erhalten und bestärken. 
  Immer Ihr:
  R. M. Rilke
    Briefe I (26. 12. 1908), 256-258
    Nun stehen Ihnen noch viele solche Wochen bevor, getheilt zwischen solchen Wegen und Fahrten und den dämmernden Zimmern, in denen das Dunkle dunkler wird und das Glänzende glänzender und alles zusammengehöriger als in den offenen Tagen des Frühlings und des Sommers und jenes Herbstes, der bei Ihnen zu solcher Pracht anwachsen kann. Wie schön ist es dann mit den von draußen kommenden klaren Augen, die, wenn man die Lider ein
wenig schließt, ganz kalt sind unter ihnen, in ein Buch hineinzusehen bis sie warm werden: und sicher waren viele Bücher unter dem Weihnachtsbaum, die nun an die Reihe kommen und reichen bis der Frühling kommt und mit ihm Reiselust und Reise. Berlin, das ja eine geschmacklose konfuse und ziemlich sinnlos aufwachsende Stadt ist, wird Ihnen dennoch bei kurzem Aufenthalt und guter Auswahl vieles entgegenbringen. Amsterdam und Brüssel kenn ich nicht. Aber Brügge war (mit Gent und mit den alten fast vergangenen flandrischen Städten Ypern und Furnes) einer der Orte meiner Reise vom letzten Sommer und der merkwürdigste vielleicht, jedenfalls der unvergleichlichste. Davon will ich Ihnen bald erzählen,
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