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Wind & Der zweite Versuch

Wind & Der zweite Versuch

Titel: Wind & Der zweite Versuch
Autoren: Marcus Hammerschmitt
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ihr zuvorzukommen, er wollte lieber die ganze Nacht mit ihr Rad fahren, als in dieser Tropfsteinhöhle die Widergänger der Modernität zu begutachten, da hörte die Musik mit einem Schlag auf. Zwei Meter über dem Epizentrum des Publikums entfaltete sich ein Mund, und Tina sagte, beinahe atemlos: »Das ist DRL.« Was immer dieser Mund auch sein sollte, er begann zu sprechen.
    »Tief in uns fühlen wir alle eine tiefe Spiritualität.«
    Pause.
    »Manche von uns sind an religiöse Systeme gekettet, die es ihnen erlauben, ihre Spiritualität zu leben, während andere Anteile ihres Menschseins durch diese Systeme unterdrückt werden. Die meisten herkömmlichen Religionen spielen kranke Spiele mit der menschlichen Sexualität.«
    Pause.
    »Viele haben sich in der letzten Zeit mit einem Neoschamanismus angefreundet, der wirklich nützlich ist, wenn man erfahren will, was es heißt, ein ›Mann‹ oder eine ›Frau‹ zu sein. Der Neoschamanismus kennt kaum Dogmen. Formale Prinzipien wechseln von Gemeinde zu Gemeinde. Das ist gut.«
    Pause.
    »Yeah.«
    Pause.
    »Aber da gibt es noch etwas anderes in uns, das wir nicht länger leugnen sollten. Es ist so neu wie die modernste Computertechnologie, aber die Kraft dahinter ist so alt wie die Menschheit. Wir, Menschen, machen Werkzeuge. Das ist unsere Bestimmung. Magie hatte schon immer was mit Präzisionsinstrumenten zu tun, mit Äxten, Schwertern, Pokalen und Feuer.«
    Pause.
    »Aber die neue Technomagie ist anders. Sie ist kein einfaches Mittel mehr zum Sieg im Kampf, sondern sie erlaubt uns, die Göttin, von der wir abstammen, zu erkennen. Wir haben es jetzt mit Metamagie, einem Metageheimnis zu tun.«
    Eddie rieb sich die Augen. »DRL« hatte das Publikum völlig in der Hand. Und Eddie mußte sich eingestehen, daß dieser Trick, komplett auswendig gelernte Phrasen wie etwas gerade frisch Erdachtes zu präsentieren, selbst auf ihn wirkte. Und das, obwohl er den Text sofort erkannt hatte: es handelte sich dabei um das Gründungsmanifest der »Wired Doctors«, einer kalifornischen Konzeptband aus der Zeit um die Jahrhundertwende, die seinerzeit versucht hatte, Musik und ökosoziale Revolution miteinander zu verbinden, drei Disks waren von ihr erschienen, dann hatten sich die Doctors aufgelöst und wurden seitdem in allen Teilen der Welt von Zeit zu Zeit gesehen, obwohl zwei der drei Bandmitglieder nachweislich tot waren. Das Übliche. Wenn Eddie nicht alles täuschte, dann hatten zwei Drittel der Zuhörer im Saal mindestens eine Disk der Doctors im Regal herumstehen, und in jedem Textbooklet war das Gründungsmanifest abgedruckt. Das tat der allgemeinen, nahezu speichelnden Begeisterung im »Mehrfachen Mann« nicht den geringsten Abbruch. Eddie wollte Tina sagen, woher DRL seine Weisheiten hatte, sie zischte ihn giftig an.
    »Ein Technoschamane glaubt an ein paar Sachen: a) Der substantielle Kern des Universums ist ein Algorithmus. Dieser Algorithmus, die Weltformel, liegt allem zugrunde. b) Von diesem Algorithmus leitet der Technoschamane eine Moral ab, und ihr erster Grundsatz lautet: ›Hilf, wo es nötig ist.‹«
    Pause.
    »Okay.«
    Pause.
    »Ein Technoschamane benutzt die Subroutinen des Grundalgorithmus, um in das alltägliche Leben einzugreifen. Hilfreich natürlich. White magic only. Und d) …«
    D bekam Eddie nicht mehr wirklich mit, weil er nun dringend aufs Klo mußte, er wußte nicht ob zum Pissen oder zum Kotzen zuerst, aber aufs Klo mußte er. Er wurde praktisch aus dem Saal herausgezischt und herausgeflucht.
     
    Das Wichtigste zuerst, also pissen. Eddie stand vor der Edelstahlschüssel, ließ seinen Urin hineinplinkern und den beißenden Ammoniakgeruch sein Gehirn von der geistigen Verschmutzung reinigen, mit der DRL es angefüllt hatte, und er fühlte sich hier unten, in der vollverkachelten Schlachthausatmosphäre, relativ wohl, verglichen zu dem Treibhaus der Dummheit, dem er eben entflohen war. Weil er so aufs Pissen und aufs Wohlfühlen konzentriert war, auf Erleichterung und Reinigung, merkte er erst an seinem Zurückprallen von der Wand, daß jemand ihn mit voller Wucht dagegengeschmettert hatte. Beim Niederstürzen dachte er zwei Dinge: erstens, so fand er, hätte sein Angreifer warten können, bis er mit dem Pinkeln fertig war, auf diese Art mußte er sich ja die ganze Hose versauen. Zweitens ging ihm in einer jener luziden Momente am Rand der Bewußtlosigkeit auf, was DRL bedeutete.
    Aber Eddie wurde nicht bewußtlos. Er stürzte nur nieder, wie
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