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Wilhelm Storitz' Geheimnis

Wilhelm Storitz' Geheimnis

Titel: Wilhelm Storitz' Geheimnis
Autoren: Jules Verne
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können?
    Wahrscheinlich konnte Wilhelm Storitz sie damals nicht gleich forttragen; aber er hätte sein Verbrechen voraussichtlich noch vollständig gemacht, wenn Haralans Waffe nicht an diesem Morgen seinem ruchlosen Treiben ein Ende bereitet hätte.
    Und jetzt waren Myra auch alle Geisteskräfte wiedergekommen – vielleicht war es der Wirkung der Flüssigkeit zuzuschreiben, welche Wilhelm Storitz ihr eingeflößt haben mußte –; Myra, welche von nichts wußte, was sich seit der Szene in der Kathedrale ereignet hatte, war wieder in unserer Mitte, sprach mit uns, sah uns und war sich noch nicht bewußt geworden, in der verhältnismäßigen Dunkelheit, daß sie sich selbst nicht sehen konnte. Markus war aufgesprungen und breitete die Arme aus, sie zu umfassen….
    Sie fuhr fort:
    »Was ist Euch denn? Ich rede mit Euch und Ihr antwortet mir nicht. Ihr seht alle so erstaunt aus, mich hier zu sehen. Was ist denn geschehen?… Warum ist Mama nicht hier? Ist sie nicht wohl?«
    Wieder öffnete sich die Türe, um Dr. Roderich einzulassen. Sogleich eilte Myra ihm entgegen – so schien es uns wenigstens – und rief:
    »Ach, mein Vater!… Was gibt es denn?… Warum sehen mein Bruder und Markus so verstört aus?«
    Dr. Roderich war wie zu Stein erstarrt auf der Schwelle stehen geblieben. Er begriff alles… Aber Myra stand neben ihm; sie küßte ihn und wiederholte:
    »Was ist denn geschehen?… Mama?… Wo ist Mama?…
    – Deine Mutter ist ganz wohl, mein Kind, stammelte der Doktor. Sie wird gleich kommen… Bleibe hier, mein Kind, bleibe!«
    Es war Markus gelungen, seine Frau bei der Hand zu fassen und er führte sie leise mit sich fort, als ob er eine Blinde leite. Und doch war nicht sie die Blinde, sondern wir alle, die nicht sehen konnten. Mein Bruder zog sie neben sich auf einen Sitz nieder….
    Sie sprach jetzt nicht mehr, denn die Wirkung, die ihr Erscheinen auf uns ausgeübt, unser Schweigen beängstigte sie.
    Markus flüsterte mit zitternder Stimme Worte, deren Sinn sie nicht verstehen konnte.
    »Myra!… Meine liebe Myra!… Ja!… Du bist es wirklich… Ich halte Dich!… Du bist wirklich bei mir!… O, Geliebte, ich beschwöre Dich, verlasse mich nicht mehr!…
    – Lieber Markus… Was hast Du?… Du siehst ganz verstört aus… Ihr alle seht so aus… Ihr erschreckt mich… Vater, antworte Du!… Ist ein Unglück geschehen?…«
    Markus fühlte, daß sie sich erheben wollte. Er hielt sie sanft zurück.
    »Nein, sagte er, beruhige Dich. Es ist kein Unglück geschehen; aber sprich wieder, Myra… sprich, daß ich Deine Stimme wieder höre… Du… mein Weib… meine über alles geliebte Myra!…«
    Ja, wir waren Augen-und Ohrenzeugen dieser Szene. Und wir saßen noch immer mit starren Blicken da, unfähig zu jeder Bewegung; kaum wagten wir zu atmen unter dem Banne der fürchterlichen Erkenntnis, daß der einzige Mensch, welcher Myra ihre sichtbare Gestalt wiedergeben konnte, tot war und sein Geheimnis mit ins Grab genommen hatte!
XVIII.
    Wir waren letzt nicht mehr Herren der Situation; war endlich ein glückliches Ende zu erwarten? Niemand wagte es zu glauben. Myra schien für immer aus der sichtbaren Welt verschwunden zu sein. In das unaussprechliche Glück, sie wiedergefunden zu haben, mischte sich der gleich unsagbare Schmerz, daß unsere Blicke und unser Herz sich nie wieder an ihrer Schönheit und Anmut erfreuen konnten.
    Man kann sich leicht vorstellen, welche Existenz die Familie Roderich unter diesen Umständen führen mußte!
    Myra wurde sich ihres Zustandes gar bald bewußt. Als sie an dem oberhalb des Kamins angebrachten Spiegel vorbeiging, konnte sie ihr Bild nicht erblicken…. Sie wandte sich nach uns um, stieß einen Schrei des Schreckens aus… und sah auch keinen Schatten neben sich.
    Jetzt mußten wir sie über alles aufklären; sie weinte bitterlich und Markus, welcher vor dem Sessel kniete, auf dem sie Platz genommen hatte, suchte ihr Trost zuzusprechen. Er liebte sie, da er sie noch sehen konnte, er werde sie auch unsichtbar ebenso innig lieben. Es war ein herzzerreißender Anblick.
    Dr. Roderich wünschte, daß Myra auch zu ihrer Mutter gehen solle; es war besser, daß Frau Roderich sie neben sich wußte, ihre Stimme hörte.
    So vergingen einige Tage. Was unsere Tröstungen nicht vermocht hatten, das bewirkte die Zeit; Myra ergab sich schließlich in ihr Geschick. Dank ihrer Seelengröße schien es uns fast, als ob das Leben wieder in seine normalen Bahnen einlenke. Myra benachrichtigte
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