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Wilhelm Storitz' Geheimnis

Wilhelm Storitz' Geheimnis

Titel: Wilhelm Storitz' Geheimnis
Autoren: Jules Verne
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ihren Platz zurück, nachdem der Diakon ihr Almosen empfangen hat.
    Die Messe ist zu Ende und der Priestergreis wendet sich gegen das Volk.
    »Myra Roderich, sind Sie hier?… fragte er.
    – Ja, ich bin da, antwortete Myra.
    Dann wandte er sich zu Markus:
    – Markus Vidal, sind Sie gewillt, die hier anwesende Myra Roderich zur Gattin zu nehmen?
    – Ja, antwortete mein Bruder.
    – Myra Roderich, sind Sie gewillt, den hier gegenwärtigen Markus Vidal zum Gatten zu nehmen?
    – Ja, antwortete Myra mit deutlich vernehmbarer Stimme.
    – Markus Vidal und Myra Roderich – sprach langsam und feierlich der Erzpriester – ich erkläre Euch durch das Sakrament der Ehe für verbunden!«
    Nach der Trauung eilten die Leute auf die Straße hinaus, um die Neuvermählten vorübergehen zu sehen. Aber man hörte nicht den bei ähnlichen Anlässen üblichen fröhlichen Lärm. Die Menge schweigt und lauscht aufmerksam, immer noch in der Hoffnung, etwas Außergewöhnliches zu sehen. Niemand will einem anderen den eroberten Platz abtreten, aber keiner will in der ersten Reihe stehen. Alle werden gleichzeitig durch die Neugier vorausgetrieben und durch geheime Angst zurückgehalten. Zwischen dieser doppelten Reihe furchtbefangener Menschen schreitet das vermählte Paar, die Zeugen, die Freunde zur Sakristei, dort fügt sich in den Registern der Kirchenbücher zu dem Namen Markus Vidal der Name Myra Roderich, den eine Hand niederschreibt, die man nicht sehen kann, eine Hand, die man niemals sehen wird.
XIX.
    So endigte, am 2. Juli, dieser seltsame Roman, den ich, einer Laune folgend, niedergeschrieben habe.
    Ich sehe vollkommen ein, daß er unwahrscheinlich klingt. Aber daran ist wohl nur die mangelhafte Schilderung des Erzählers Schuld. Die Geschichte ist unglücklicherweise nur zu wahr, obwohl sie einzig dasteht in den Annalen der Vergangenheit und – ich hoffe es von Herzen – einzig bleiben wird in den Annalen der Zukunft.
    Selbstverständlich hatten mein Bruder und Myra ihre einstigen Zukunftspläne aufgegeben. An eine Reise nach Frankreich war unter den jetzigen Umständen nicht mehr zu denken. Ich sah voraus, daß Markus in Zukunft in Paris nur flüchtigen Aufenthalt nehmen würde und daß sein ständiger Wohnort Ragz bleiben mußte. Das war ein großer Kummer für mich, aber ich mußte mich fügen.
    Am besten war es wohl, wenn Markus mit seiner jungen Frau bei Herrn und Frau Dr. Roderich blieb. Die Zeit ebnet alles und Markus würde sich an dieses Leben gewöhnen. Myra wußte es immer so einzurichten, daß allen immer die Illusion ihrer Gegenwart gegeben wurde.
    Man wußte immer, wo sie war und was sie machte. Sie war die Seele des Hauses, leider auch unsichtbar wie eine Seele.
    Außerdem war ihre materielle Gestalt nicht ganz verschwunden. Hatte man nicht das prachtvolle, von Markus gemalte Bild von ihr? Myra liebte es, sich daneben hinzusetzen; dann sagte sie mit ihrer tröstenden, weichen Stimme:
    »Ich bin ja da, ich bin sichtbar geworden, und Ihr seht mich jetzt, wie ich mich sehe!«
    Ich blieb noch einige Wochen nach der Hochzeit in Ragz und wohnte im Hause des Doktors in der herzlichsten Intimität mit dieser so schwer geprüften Familie; mit Bedauern sah ich den Tag meiner Abreise herannahen. Aber auch der längste Urlaub geht einmal zu Ende; ich mußte nach Paris zurückkehren.
    Mein Beruf nahm mich zunächst ganz in Anspruch, mehr, als beschäftigungslose Leute ahnen, aber die Ereignisse, in die ich kürzlich verwickelt worden war, waren zu seltsamer Natur gewesen, so daß auch die angestrengteste Beschäftigung die Erinnerung nicht gänzlich zu bannen vermochte. Ich dachte nahezu unaufhörlich daran und kein Tag verging, ohne daß meine Gedanken nach Ragz zu meinem Bruder und seiner Frau wanderten, die nun endlich vereint und so weit von mir waren.
    Im Jänner des folgenden Jahres stellte ich mir zum hundertsten Male die Aufeinanderfolge all der Schreckensszenen vor, deren Abschluß der Tod Wilhelm Storitz bildete und mit einem Male kam mir eine Eingebung; sie war so einfach, so selbstverständlich, daß ich ganz erstaunt war, nicht früher daran gedacht zu haben. War ich blind gewesen oder hatten mich alle Fähigkeiten logischen Denkens verlassen, daß ich niemals die Umstände seines Todes so recht bedachte?
    Heute drängte sich dieser Schluß meinem Geiste förmlich auf: hatte der Körper unseres besiegten Feindes die Eigenschaft der Unsichtbarkeit verloren, die ihm bei seinen Lebzeiten zu eigen gewesen, so
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