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Wilhelm II.

Wilhelm II.

Titel: Wilhelm II.
Autoren: C.H.Beck
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einer Denkschrift vom Oktober 1870 unterbreitete Hinzpeter den Eltern einen anspruchsvollen Bildungsplan, der nicht nur eine dreijährige Trennung von ihrem Sohn, sondern gewißauch den Konflikt mit dem regierenden Kaiser und dessen militärischer Umgebung zur Folge haben würde: Von seinem 15. Lebensjahr bis zur Volljährigkeit sollte Wilhelm an einem öffentlichen Gymnasium fern von Berlin in Konkurrenz mit Schülern aus bürgerlichen Familien fortgebildet werden. Als Vorbereitung auf dieses ehrgeizige Erziehungsexperiment müßte ein neuer Unterrichtsplan eingeführt werden. Danach lernte Wilhelm neben Latein und Mathematik erstmals Griechisch, Lehrer von außerhalb wurden engagiert, um ihm Chemie- und Biologieunterricht zu erteilen, Englisch-, Französisch- und Deutschstunden zu geben und ihn in die Kunstgeschichte einzuführen. An manchen Stunden nahmen andere Knaben teil und machten sonntags mit den beiden Hohenzollern-Prinzen Museumsbesuche. Auf Wunsch der Eltern erhielt Wilhelm am Gewerbemuseum außerdem Zeichenunterricht. Am 2. April 1873 bestand er die Reifeprüfung für die Obertertia, doch hinter den Kulissen wurden Sorgen laut, die nicht nur seiner Eignung für das Gymnasium, sondern seinem Charakter überhaupt galten.
    Trotz seines Bildungsplanes hatte Hinzpeter bereits 1870 das Kronprinzenpaar mit der Gretchenfrage konfrontiert, ob ihr Sohn «nicht ein glücklicherer und vielleicht auch brauchbarerer Mann werden wird, wenn man die Anforderungen weniger hoch spannt». Jetzt, im April 1873, stieß der «Doktor» einen «Angstruf» über die Entwicklung seines pubertierenden Zöglings aus, der Bände spricht. Mit «erschreckender Klarheit» erkenne er die Schwierigkeiten, die sich dem Erreichen des ursprünglichen Bildungsideals entgegenstellten. Er machte auf die «sehr ernsthaften Opfer» aufmerksam, die die Eltern und der Erzieher, vor allem aber der Schüler würden bringen müssen, sollte der «Höhenpfad» doch weiterbeschritten werden: Bis zum Abiturabschluß würde Wilhelm von seinen Eltern getrennt leben und «seinen Lebensgenuß fast allein in seinen Studien suchen» müssen. Entscheide man sich hingegen für den leichteren Weg, würde sich das Leben des Prinzen viel heiterer in engem Anschluß an die Familie gestalten und das Endresultat wahrscheinlich sogar ein harmonischeres werden. Nach einer «unangenehmen» Auseinandersetzung mit Hinzpeter entschieden sich die Eltern – sprich: dieKronprinzessin – doch für den «Höhenpfad» am Gymnasium in Kassel, der unweigerlich «spartanische» Disziplin nach sich zog, über die der Kaiser noch im Exil so klagte.
    Spätestens bei seiner Konfirmation im Sommer 1874 waren besorgniserregende Charaktermängel in Wilhelm nicht mehr zu übersehen. Als Schutz vor der ärztlichen Folterei und den unerfüllbaren Leistungserwartungen Hinzpeters und der Eltern entwickelte er eine narzißtisch überzogene Eigenliebe, gepaart mit einer eisigen Gefühlskälte sowie einer aggressiven Verachtung für vermeintlich Schwächere. Für das Scheitern des bisherigen Experiments gaben sich die Kronprinzessin und Hinzpeter gegenseitig die Schuld. Die Mutter klagte, ihr Sohn sei «sehr hochmüthig, außerordentlich selbstzufrieden u. von sich eingenommen, nimmt die geringste Bemerkung übel, spielt den Piquirten u. giebt nicht selten eine naseweise Antwort». «Bei Wilhelm fällt mir seine rauhe hochmüthige Art mehr als je auf», schrieb sie 1873. «Die etwas trockene u. wegwerfende Art des Doctors copirt er.» Er sei «ziemlich barsch, absprechend u. rechthaberisch […] wenn er mit mir spricht». Seinerseits klagte Hinzpeter: «Kein Mensch, aber absolut kein Mensch kommt auf den Gedanken, daß dieser Junge doch auch eine Seele hat wie andere Kinder, daß dieselbe der Pflege, Reinigung, Heiligung bedürfe; mich allein verfolgt dieser Gedanke aber wie ein Schreckbild. […] Der arme Junge kann mir leid thun. […] Wo soll der Mensch einmal Liebe und Glauben hernehmen, die er doch mehr als jeder Andere nöthig haben wird?» Noch kurz vor dem gemeinsamen Umzug nach Kassel bezweifelte der Doktor, ob es jemals möglich sein würde, Wilhelms «fast krystallinisch hart gefügten Egoismus» zu überwinden, der doch «den innersten Kern seines Wesens» bilde. Das war richtig gesehen, doch solche Einsichten waren viel zu spät gekommen. Alles in allem wird man sagen müssen, daß das ambitiöse Erziehungsprojekt Victorias und Hinzpeters, das Wilhelm im Hinblick auf seine
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