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Wilde Saat

Wilde Saat

Titel: Wilde Saat
Autoren: Octavia Butler
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daß sie jeden Augenblick niederkommen kon n te.
    Wie dumm war es von ihm gewesen, fortzugehen und sie alleinzulassen! Wie dumm von ihm, auch nur auf eine ei n zige Sekunde jener kurzen Zeitspanne zu verzichten, die ihnen vielleicht noch verblieb.
    Anyanwu nahm seine Hand und zog ihn ins Haus, wä h rend ihr Sohn Julien die Zügel des Pferdes nahm. Julien bedac h te Doro mit einem langen, ängstlichen und zugleich flehe n den Blick, aber Doro tat so, als bemerke er es nicht. Kein Zweifel, der junge Mann wußte Bescheid.
    Im Haus schauten ihn Leah und Kane – die Anyanwu hatte rufen lassen – mit ähnlichem Ausdruck an. Niemand sagte etwas zu ihm außer den üblichen Worten des Wil l kommens, aber im Haus herrschte eine fast unerträgliche Spa n nung. Es war so, als spürten es alle außer Anyanwu. Sie schien nichts anderes zu empfinden, als eine ernste Freude dar ü ber, daß sie Doro wieder bei sich hatte.
    Das Supper verlief stumm, in einem fast verbissenen Schweigen, und jeder schien irgend etwas zu tun zu haben, das ihn davon abhielt, nach dem Essen noch länger am Tisch sitzen bleiben zu können – alle, außer Doro. Er schlug Anyanwu vor, Wein, Früchte und Nüsse bringen zu lassen und mit ihm in dem kleineren Wohnraum noch ein wenig zu plaudern. Anyanwu willigte ein. Sie tranken Wein und aßen ein paar Früchte, doch es kam keine Unte r haltung zwischen ihnen auf.
    Es machte Doro nichts aus. Für ihn war es genug, daß sie bei ihm war.
    Anyanwus Kind, ein kleiner kräftiger Junge, wurde zwei Wochen nach Doros Rückkehr geboren, und Doro wurde beinahe krank vor Verzweiflung. Er wußte nicht, wie er seiner Gefühle Herr werden sol l te. Er konnte sich nicht erinnern, jemals einen so l chen Gefühlssturm in sich erlebt zu haben. Immer wieder ertappte er sich dabei, wie er sich selbst beobachtete, und er stellte fest, daß ihm die innere Unruhe und Zerrissenheit nach außen hin nicht anzus e hen war. Die meiste Zeit verbrachte er zusammen mit Anya n wu. Er schaute dabei zu, wie sie ihre Tees mischte und mehrere ihrer Leute im Anbau und in der Verwendung von Heilkräutern unterrichtete. Di e jenigen, die auf diese oder jene Tinktur nicht so la n ge warten konnten, wurden noch von ihr behandelt.
    »Was werden sie anfangen, wenn sie nur noch die Krä u ter haben werden?« fragte er sie.
    »Leben oder sterben, so gut sie es können«, erwiderte sie. »Alles wirklich Lebendige stirbt früher oder später.«
    Sie fand eine Frau, die ihr Baby stillte, und sie gab der verwirrten Leah ruhig ihre Ratschläge. Leah war in ihren Augen die begabteste und tüchtigste ihrer we i ßen Töchter und damit diejenige, die sich am besten als ihre Nachfolg e rin eignete. Kane war gegen eine solche Lösung. Der G e danke, plötzlich stärker im Licht der Öffentlichkeit zu st e hen, beu n ruhigte und ängstigte ihn. Die Gefahr bestand, daß er nun häufiger mit den Menschen aus der Gesel l schaftsklasse seines Vaters zusammenkam – mit Me n schen, die seinen Vater gekannt haben konnten. Doro hielt dies für sehr unwahrscheinlich und fand Kanes Besorgnis grundlos. Er versuchte Kane kla r zumachen, daß überhaupt nichts passieren konnte, wenn er die Rolle eines wohlh a benden Pflanzers weiterhin so gut spielen würde wie bi s her. Doro erinnerte Kane daran, welch eine prächtige Figur er in seinem Sonntagsstaat machte und wie unwahrschei n lich es sei, daß jemand den Verdacht haben könne, mit ihm, Kane, sei irgend etwas nicht in Or d nung. Doro erzählte Kane die Geschichte, wie Frank ihn als einen zum Chri s tentum bekehrten afrikan i schen Prinzen ausgegeben hatte, und sie brachen beide in lautes Gelächter aus. In der letzten Zeit wurde im Haus nur noch selten gelacht, und die be i den ve r stummten plötzlich wie ertappte Sünder.
    »Du mußt sie zurückhalten!« sagte Kane, als hätten sie die ganze Zeit über nur von Anyanwu gespr o chen. »Du mußt! Du bist der einzige, der es kann.«
    »Ich weiß nicht, was ich tun soll«, gab Doro beschämt zu. Kane würde sich nicht vorstellen können, wie ung e wöhnlich ein solches Eingeständnis für D o ro war.
    »Sprich mit ihr! Und wenn sie irgend etwas von dir ve r langt, gib es ihr!«
    »Ich glaube, sie will, daß ich nicht mehr töte«, erw i derte Doro.
    Kane blinzelte und schüttelte hilflos den Kopf. Selbst er begriff, daß Anyanwu da Unmögliches ve r langte.
    Leah betrat das hintere Wohnzimmer, in dem die beiden saßen. Die Hände in die Hüften gestemmt, stellte sie sich
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