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Wigges Tauschrausch

Wigges Tauschrausch

Titel: Wigges Tauschrausch
Autoren: Michael Wigge
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Plötzlich finde ich die Idee interessant, mein Projekt in den unterschiedlichen Kulturkreisen, die ich besuchen werde, hellseherisch begleiten zu lassen. Vielleicht erhalte ich dabei ja auch ein paar nützliche Tipps.
    Ich frage also die Hellseherin, was die Zukunft in sechs Monaten konkret für mich bereithält, ohne ihr von meinem Vorhaben zu erzählen. Die Wahrsagerin sitzt vor mir, schließt ihre Augen und horcht auf die diversen Stimmen in ihrem Inneren. Kurze Zeit später sagt sie plötzlich und sehr bestimmt: »Ein großer Gegenstand!« Ich bin überrascht, dass sie als Erstes über einen Gegenstand spricht, und frage nach, ob es ein Auto sein könnte. Sie schließt wieder die Augen und horcht in sich hinein. »Der Gegenstand ist groß, und du kannst hineingehen, ein Haus vielleicht!«,sagt sie schließlich, als wäre es das Normalste der Welt.Unglaublich! Ich hatte bisher nicht geglaubt, dass Hellseher zu so etwas in der Lage wären. Auf meine Frage, wie ich am besten zu diesem Haus gelangen könne, horcht sie wieder in sich hinein und rät mir, an meinen Strategien und Plänen festzuhalten, mir dabei aber keine zu langen Pausen zu gönnen. Ich bin beeindruckt, das hatte ichwirklich nicht erwartet. Die Hellseherin bestärkt mich in meinen Absichten, und sie hält es sogar für möglich, dass ich mein Ziel erreichen kann – sofern ich in den nächsten 193 Tagen keinen Urlaub in der Karibik einschiebe.
    Am Abend erreiche ich mein ursprüngliches Ziel, den Ort Wangen, wo der hiesige Tauschring Hermann und mich in einem Gemeinderaum erwartet. Circa dreißig Mitglieder sitzen hinter Tischen, die mit Tauschgütern aller Art bedeckt sind, meistens kulinarische Leckereien, selbst gehandwerkelte Gegenstände oder Kleinkunst.
    Die Leiterin der Gruppe, Frau Feustel, erklärt mir, dass die Tauscheinheit des Ringes ein Talent ist. Der Anbieter beziffert den Wert seiner Ware nach der Anzahl Stunden, die er benötigt hat, die Ware herzustellen. Eine Stunde Arbeit wird mit zehn Talenten verrechnet. Möchte nun jemand einen selbstgebackenen Kuchen kaufen, bezahlt er die vierzig Talente, die der Kuchen kostet, oder stellt dem Anbieter seine Arbeitskraft für vier Stunden zur Verfügung.
    Frau Feustel erzählt mir, dass es den Tauschring schon seit über zwanzig Jahren gibt und fast 300 Leute aus dem Umkreis mitmachen. Ich schaue mich im Gemeinderaum um und sehe Leute aus allen Altersgruppen, vom Kind bis zur älteren Dame. Alle scheinen sich sehr zu freuen, dass ihre Art des Tauschens durch meine Aktion die Chance bekommt, in ganz Deutschland bekannt zu werden. Auch wenn das Ganze hier vielleicht ein bisschen altbacken rüberkommt, so ist nicht zu übersehen, wie begeistert alle davon sind, sich kreativ zu betätigen, ihre eigenen »Talente« einzusetzen. Allerdings wundert mich, wie bürokratisch hier alles abläuft. Bereits im Vorfeld des Besuchs musste ich eine offizielle Bewerbung als Tauschringmitglied mit eigener Mitgliedsnummer ausfüllen und den Monatsbeitrag von zwölf Euro bezahlen. Da mit der Überweisung offenbar etwas schiefgelaufen ist, fordert mich die Dame an der Kasse nun auf, den Mitgliedsbeitrag hier zu bezahlen. Eine zweite Dame hält mir Papiere mit Tauschnummern, Talent-Kontonummern und sonstigen Formularen unter die Nase. So viel offizieller Papierkram für einen einmaligen Besuch auf einer Tauschbörse ist mir ein wenig too much .
    Kurze Zeit später steht Hermann wieder einmal im Mittelpunkt des Interesses. Über Mikrofon preist Frau Feustel Hermanns Vorzüge an: Fünfgangbetrieb, Rückwärtsgang, höhenverstellbares Schneidwerk, Höchstgeschwindigkeit 8 km/h. Die Reaktionen sind verhalten. Wahrscheinlich haben schon alle einen Rasenmäher zu Hause. Ich darf zwar mein Ziel nicht aus den Augen verlieren, aber ich merke erneut, wie schwer ich mich von Hermann trennen kann. Ich merke, wie ich mich erleichtert zurücklehne, und sehe mich schon mit ihm durch die Schweizer Alpen tuckern, als plötzlich jemand die Hand hebt, es ist der Lehrer an der hiesigen Sonderschule, wie ich später erfahre. Er bietet 400 Talente für Hermann. Vierzig Arbeitsstunden für einen Rasenmäher, an der Reaktion im Saal bemerke ich, das ist verdammt viel.
    Ich schaue nach draußen und sehe Hermann vor der Glasfront des Gebäudes stehen. Dort wartet er auf mich, und ich bin gerade im Begriff, unsere Freundschaft zu verraten. Die kleine Träne, die ich über Hermanns rechten Scheinwerfer kullern sehe, bricht mir fast das Herz.
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