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Wiener Schweigen

Wiener Schweigen

Titel: Wiener Schweigen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Iris Strohschein
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sein Auto stieg, vermied es Rosa, ihren Blick über das Feld zu der Baumgruppe zu lenken, an deren zersplittertem Holz und versengten Blättern das gestrige Ereignis abzulesen war. Obwohl sie es nicht mit Bestimmtheit sagen konnte, war sie davon überzeugt, dass die Bakk Pharm  AG   keinen weiteren Mörder schicken würde. Sie glaubte, dass Mühlböck tatsächlich aus Eigeninitiative gehandelt hatte, und teilte ihre Gedanken Liebhart mit, während sie Richtung Wien fuhren.
    »Ich vermute, Mühlböck hat irgendwelche Geschäfte gemacht, die sich aus Pauls Projekt ergeben haben, von denen der Vorstand nichts wissen durfte. Die hätten sonst andere Mittel eingesetzt, um an mich ranzukommen.«
    »Das denke ich auch, wir werden dort auf jeden Fall eine eigene Untersuchung einleiten. Vielleicht kommen wir auch an den Karton heran, in dem Pauls Unterlagen aufbewahrt werden.«
    »Ich bezweifle, dass es diesen Karton noch gibt«, meinte sie und öffnete das Fenster.
    Der Portier des Bundeskriminalamtes am Josef-Holaubek-Platz war informiert und gab Rosa einen Besucherausweis, der für einen Monat galt, und einen Schlüssel für das Untersuchungszimmer, in dem der Schatz aus Frau Toblers Keller eingelagert worden war. Als sie die Tür zu dem Zimmer öffnete, glaubte sie, eine andere Welt zu betreten.
    »Ali Babas Schatzhöhle«, flüsterte sie zu sich selbst.
    Die Kunstgegenstände waren nach den von ihr zugewiesenen Nummern auf den Stahltischen angeordnet.
    Der Geruch von altem Holz, Erde und … Sie blieb schnuppernd stehen, traute ihrer Nase nicht und schnupperte nochmals. »Weihrauch! Ich glaub’s nicht«, rief sie laut aus und spähte erschrocken aus der Tür auf den Gang, um sicherzugehen, dass sie niemand gehört hatte.
    Nach all den Jahren in einem Keller mit eingelegtem Kraut und Gemüse verströmten die Ikonen noch immer den Weihrauchduft aus der Zeit, in der sie in orthodoxen Kirchen gehangen waren.
    Kopfschüttelnd richtete sie sich in dem Zimmer ein, in dem sie die nächsten vier Wochen verbringen sollte.
    Sie begann, wie immer, mit einer allgemeinen Beschreibung der Gegenstände. Bei der darauffolgenden Analyse sollte eine Einteilung der Werke nach ihrer Entstehungszeit getroffen werden. Die Besitzer sollten dann über Interpol gesucht und der Schatz an sie zurückerstattet werden. Natürlich mit gehörigem Presserummel.
    Danach widmete Rosa sich zuerst der Muttergottesikone, die der Familie Zieliński gehört hatte, und unterzog sie einer genaueren Untersuchung. Die Innigkeit, mit der die Mutter ihren Sohn umarmte, war auf dem Original weitaus besser zu erkennen als auf dem Foto, das Rosa zu Beginn der Ermittlungen zur Verfügung gestanden war. Die Figuren waren mit einer fließenden Linie umrissen. Das Thema Liebe und ewige Verbundenheit von Mutter und Sohn war ausgesprochen gut getroffen.
    Rosa krampfte ihre Hände um die Tischkante, als sie die kleine Hand des Jesuskindes sah, das zärtlich die Wange seiner Mutter berührte. Nun konnte sie verstehen, was Frau Tobler mit diesem Bild verbunden hatte. Die Mörderin hatte nie Liebe von ihrer Mutter erfahren, deswegen war sie auch bereit, für diese Darstellung von Mutterliebe zu töten. Rosa verstörte das Mitleid, das sie für diese unförmige einsame Frau empfand, die mit dem Makel, ein Bastard zu sein, in einer brutalen Umgebung aufgewachsen war. Sie stand auf und ging schnell im Raum auf und ab, die Hände über ihren hellen, bunt gemusterten Sommerrock streichend.
    Was für eine Verwüstung musste diese Kindheit in ihr angerichtet haben, was für eine innere Leere war daraus entstanden? Rosa sah aus dem Fenster auf die Autokolonnen, die sich Richtung Nordbrücke zogen. In den Dächern spiegelte sich die Sonne, die unbarmherzig vom Himmel brannte. Frau Tobler hatte von dem Tag erzählt, als ihr die Darstellung mit voller Wucht die Hoffnungslosigkeit ihrer eigenen Situation vor Augen geführt hatte. Rosa schluckte, als sie sich das kleine Mädchen, weinend im Keller vor der Ikone kauernd, vorstellte.
    Ihr fiel die junge Witwe Agnieszka Zieliñska ein. Sie sah das verschmitzte Lachen von Pfarrer Mullner und die bis zur Unkenntlichkeit verbrannten Gebeine der alten Zehetmair vor sich. Schnell ging sie wieder zum Tisch zurück und begann mit ihrer Arbeit.
    Am Abend kam Liebhart vorbei; von seinem verschwitzten Zustand konnte sie auf die Temperaturen auf der Straße schließen.
    »Wie geht’s?«, fragte er knapp und ließ sich erschöpft in einen Sessel

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