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Wie man mit einem Lachs verreist

Wie man mit einem Lachs verreist

Titel: Wie man mit einem Lachs verreist
Autoren: Umberto Eco
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Es war ein Junimorgen im sonnendurchglühten Hügelland, am Telegrafenmast
    aufgehängt ein Partisan. Jung, wie ich war, bekam ich Zweifel am Wesen der Norm ...« etc.
    Leichter ist die Aufgabe für einen in den exakten
    Wissenschaften geschulten AvoKaVo. Er kann von der
    Überzeugung ausgehen (die ja im übrigen zutreffend ist), daß
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    auch gemalte Bilder Elemente der Realität sind. Er braucht also nur von sehr profunden Aspekten der Realität zu sprechen.
    Zum Beispiel so:
    »Prosciuttinis Dreiecke sind Diagramme. Propositionale
    Funktionen konkreter Topologien. Knoten. Wie gelangt man von einem gegebenen Knoten U zu einem anderen Knoten V? Es
    bedarf dazu, wie bekannt, einer Bewertungsfunktion F.
    Erscheint F(U) kleiner als oder gleich F(V), so muß man für jeden anderen Knoten V, den man ins Auge faßt, U in dem Sinne entwickeln, daß von U abstammende Knoten entstehen.
    Eine perfekte Bewertungsfunktion erfüllt demnach die
    Bedingung: F(U)     evidenterweise die Distanz zwischen A und B im Diagramm bezeichnet. Kunst ist Mathematik. Dies ist die Botschaft von Prosciuttini.«
    Es mag auf den ersten Blick so scheinen, als seien Lösungen dieser Art vielleicht ganz brauchbar für ein abstraktes Gemälde, nicht aber für einen Morandi oder einen Guttuso. Irrtum.
    Natürlich hängt es von der Geschicklichkeit des Mannes der Wissenschaft ab. Zur allgemeinen Orientierung wollen wir sagen: Man kann heutzutage zeigen, wenn man René Thoms
    Katastrophentheorie mit der nötigen Unbefangenheit zu nutzen weiß, daß in den Stilleben von Morandi die Flaschen auf jener äußersten Schwelle des Gleichgewichts dargestellt sind, hinter welcher sich ihre natürlichen Formen jählings außer und gegen sich selbst verkehren würden und klirrend zerbrächen wie ein vom Knall eines Ultraschalljägers prall getroffenes Kristall. Und die Magie des Malers liegt genau in der treffenden Darstellung dieser Grenzsituation. Spiel mit der englischen Übersetzung von Stilleben: still life = noch Leben, aber bis wann? - Still-Until: magische Differenz zwischen Noch-Sein und Sein-Danach ...
    Eine andere Möglichkeit bestand zwischen 1968 und, sagen wir, 1972: die politische Interpretation. Bemerkungen über den Klassenkampf, über die Korruption der von ihrer Vermarktung befleckten Objekte. Kunst als Revolte gegen die Warenwelt, Prosciuttinis Dreiecke nun als Formen, die sich weigern, bloßer
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    Tauschwert zu sein, offen für den Erfindungsreichtum der vom Raubkapitalismus ausgebeuteten Arbeiterklasse. Rückkehr zu einem Goldenen Zeitalter oder Ankündigung einer Utopie, Traum einer Sache ...
    Freilich gilt alles bisher Gesagte nur für den AvoKaVo, der kein professioneller Kunstkritiker ist. Die Lage des professionellen Kunstkritikers ist sozusagen noch kritischer: Er muß zwar über das Werk sprechen, aber ohne sich über dessen Wert zu
    äußern. Die bequemste Lösung besteht im Aufzeigen, daß der Künstler in Eintracht mit der herrschenden Weltanschauung gearbeitet hat beziehungsweise, wie man heute gern sagt, mit dem Zeitgeist oder der unterschwellig bestimmenden
    Metaphysik. Jede unterschwellig bestimmende Metaphysik
    steht für einen Modus des Seienden, also dessen, was ist. Ein Gemälde gehört zweifellos zu den Dingen, die sind, und stellt unter anderem, so infam dieses sein mag, das Seiende dar (auch ein abstraktes Gemälde stellt dar, was sein könnte beziehungsweise was im Universum der reinen Formen ist).
    Wenn die unterschwellig bestimmende Metaphysik zum
    Beispiel behauptet, alles Seiende sei nichts anderes als Energie, so ist die Aussage, daß Prosciuttinis Werke Energie seien und Energie darstellten, jedenfalls keine Lüge; allenfalls eine Binsenwahrheit, doch eine Binse, die den Kritiker rettet und die sowohl Prosciuttini als auch den Galeristen und den künftigen Käufer beglückt.
    Das Problem besteht darin, diejenige unterschwellig
    bestimmende Metaphysik auszumachen, von welcher dank
    ihrer Beliebtheit in einer gegebenen Phase alle schon einmal gehört haben. Sicher könnte man etwa mit Berkeley sagen:
    »Esse est percipi«, um daraus abzuleiten, daß Prosciuttinis Werke sind, weil sie wahrgenommen werden. Doch da die
    fragliche Metaphysik derzeit selbst unterschwellig nicht allzu bestimmend ist, würden sich Prosciuttini und die Leser
    womöglich des krassen Binsencharakters der Aussage
    innewerden.
    Hätten die
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