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Wie man leben soll: Roman (German Edition)

Wie man leben soll: Roman (German Edition)

Titel: Wie man leben soll: Roman (German Edition)
Autoren: Thomas Glavinic
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es dir nicht gesagt?, flüstert Tante Kathi. Du musst ihn öfter besuchen!
     
    Weil man den Seifensieder kennt und sich versehentlich kurz zuvor eingekifft hat, läuft man nervös im Wartezimmer auf und ab. Zudem ist man der einzige Patient, was das Gerücht, der Seifensieder sei als Orthopäde eine Null, bekräftigt und einen dazu verleitet, sich die Wartezeit mit dem Pfeifen und Summen von
People are strange
zu vertreiben.
    Als die Sprechstundenhilfe hereinkommt, verstummt man im Glauben, man sei an der Reihe. Aber sie schleicht mit suchendem Blick durch den Raum, als verfolge sie eine Maus. Sie lauscht am Fenster, horcht am Heizkörper, öffnet die Tür zum Treppenhaus und gafft nach rechts und links. Kopfschüttelnd verschwindet sie wieder hinter ihrem Schalter.
    Man setzt sich, nimmt die
Bunte
zur Hand und vertieft sich in einen Artikel über eine heruntergekommene deutsche Fürstin. Automatisch hört man zu summen auf, als man erneut das Klack-Klack der Holzpantoffeln vernimmt. Man legt die Zeitung weg und will aufstehen, doch die Frau winkt einem zu, man könne sitzen bleiben.
    – Hören Sie das auch?
    In einem Anfall von Verfolgungswahn hält man die Frau für eine Agentin der Musterungskommission, die heimtückische Vortests durchführt. Also pariert man:
    – Ich höre gar nichts. Ich bin seit Jahren Heavy-Metal-Fan.
    – Erst dachte ich, es sei die Dachrinne. Aber die brummt nur so, wenn es geregnet hat. Vielleicht der Heizkörper?
    Sie dreht am Regler. Man ist verwirrt. Man hat keinerlei Geräusche wahrgenommen. Mit ratloser Miene kehrt die Sprechstundenhilfe an ihren Platz zurück.
    Als man ein drittes Mal Schritte hört, blickt man unwillkürlich zum Heizkörper, doch nun ist es soweit. Kurz darauf steht man dem Seifensieder gegenüber. Im weißen Mantel hat man ihn noch nie gesehen.
    – Zieh dich aus und leg dich dort drüben hin, sagt er und beginnt etwas zu schreiben.
    Gehorsam streift man alles bis auf die Unterhose ab. Doch dann zögert man. »Dort drüben«, wo man sich hinlegen sollte, befindet sich weder Bett noch Stuhl, da ist nur blanker Boden. Aber da Ärzte oft sonderbare Behandlungsmethoden haben und gerade die Orthopädie vielleicht Übungen auf dem Fußboden verlangt, legt man sich zaghaft in die Staubfäden, die über das Linoleum segeln.
    Nach einer Weile hört man Stuhlrücken und Schritte. Der Seifensieder geht auf und ab. Er murmelt etwas vor sich hin.
    – Wo bist du denn?, ruft er schließlich, und in seiner Stimme liegt Verzweiflung.
    – Na hier!
    – Wo ist hier?
    – Da, wo ich mich hinlegen sollte!
    Man winkt. Er starrt fünf Meter an einem vorbei.
    – Du Lümmel, brüllt er, du willst dich über mich lustig machen? Auf die Liege dort sollst du dich legen!
    Wenn man feststellt, dass bei den Worten »auf die Liege dort!« mit dem Finger auf einen gezeigt wird, fühlt man sich gänzlich schuldlos, zumal da wirklich eine Liege steht, aber fünf Meter in der
anderen
Richtung.
    Da der Seifensieder ein unduldsamer Mensch ist, helfen alle Beteuerungen nichts. Man wird hinausgeworfen. Bis auf die Straße begleiten einen seine Verwünschungen, und wenn man schon sechs Häuser weiter ist, hört man ihn noch vom Fenster herunterschreien, diese Unverschämtheit werde Folgen haben.
     
    Merke: Auch Christus war unschuldig und ist gekreuzigt worden.

 
    Für den Schüler eines Gymnasiums kommen unweigerlich die Wochen der Matura.
    Der Druck von außen ist beträchtlich. Tante Ernestine redet von nichts anderem. Nur mit Mühe kann man sie ablenken, indem man sie zum tausendsten Mal nach ihrem Lieblingsauto fragt und sich geduldig wirren Vorträgen über Einspritzmotoren und Sportauspüffe ergibt. Tante Kathi ruft an und mahnt, eifrig zu lernen. Im Hintergrund dröhnt Onkel Johanns Stimme, das Bestehen der Reifeprüfung sei eine Verpflichtung gegenüber der armen Mutter. Zum Glück ist die arme Mutter zur Zeit in einem Zustand, der ihr eine intensive Auseinandersetzung mit dem Thema Schulabschluss nicht gestattet.
    Auch die in der Klasse grassierende Nervosität steckt einen an. Mitschüler, die sonst jeder Prüfung mit höhnischer Gelassenheit entgegensehen, erkundigen sich hinter vorgehaltener Hand, ob man schon für Mathematik gelernt habe. Man beginnt sich zu fragen, ob nicht vielleicht doch Entscheidendes bevorsteht. Da man in Mathematik schwach ist, fällt es einem allmählich schwer, Ruhe zu bewahren. Erst wenn man die Erlaubnis erhält, sich während der Prüfung neben Peter zu
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