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Wie man im digitalen Zeitalter richtig aufblueht

Wie man im digitalen Zeitalter richtig aufblueht

Titel: Wie man im digitalen Zeitalter richtig aufblueht
Autoren: Tom Chatfield
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unsere eigenen Gedanken zu denken, ohne dass sie sofort kommentiert werden, und sei es von Menschen, die uns am nächsten stehen. Wenn wir mit dieser Zeit nicht sorgsam umgehen und sie uns bewahren, könnte die digitale Technologie sie uns nehmen.
    In einem Zeitalter permanenter Echtzeit-Verbindungen verschiebt sich die Frage »Wer bist du?« in Richtung »Was tust du?«. Sosehr wir auch nach dieser Dauerverbindung dürsten – wenn wir gut leben wollen, müssen wir uns getrennt von den konstanten Sende- und Empfangsmöglichkeiten ein Selbst-Bewusstsein bewahren. Wir brauchen in unserem Leben noch andere Zeitformen als die gegenwärtigen, andere Zeitqualitäten.
    In seinem Vortrag bei der »South by Southwest«-Konferenz im März 2010 führte der Computerwissenschaftler Jaron Lanier diesen Punkt elegant aus. Er bat seine Zuhörer, nichts anderes zu tun als zuzuhören, während er sprach. »Der wichtigste Grund, mit diesem Multitasking aufzuhören, ist nicht, dass ich mich dann respektiert fühle«, erklärte Lanier, »sondern, dass Sie dadurch existieren. Wenn Sie erst zuhören und später schreiben, hat das Geschriebene Zeit gehabt, in Ihrem Geist gefiltert zu werden. In dem, was Sie dann schreiben, ist auch ein Stück von Ihnen. Dadurch existieren Sie …«
    Wie Laniers Bitte um eine halbe Stunde ungeteilter Aufmerksamkeit nahelegt, ist es bei der Schaffung non-medialer Freiräume in unserem Leben nicht damit getan, dass man in eine einsame Berghütte zieht oder lebenslange E-Mail-Abstinenz schwört – wenngleich es Bände spricht, dass »Offline-Ferien« zu einem modischen Luxus für jene geworden sind, die es sich leisten können. Vielmehr ist es so, dass uns diese Offline-Zeit als Teil unseres Alltags am meisten zu bieten hat: die Entscheidung, einen Vormittag lang keine Mails zu schreiben, während einer Besprechung oder einer Mahlzeit sämtliche Handys auszuschalten, sich ein paar Tage oder Stunden zum Nachdenken zu nehmen oder einfach jemanden in persona zu treffen, anstatt eine Kette von zwanzig Nachrichten hin- und herzuschicken.
    Wie viele meiner Zeitgenossen stelle ich fest, dass ich zunehmend versuche, Phasen nicht-vernetzter Produktivität in meinen Tag einzubauen: Phasen, in denen ich meine sämtlichen digitalen Geräte ausgeschaltet lasse oder sie bewusst nicht bei mir habe. Ich finde auch, dass angesichts permanenter Kontakt- und Zugangsmöglichkeiten die zwischenmenschliche Begegnung mehr und mehr an Bedeutung gewinnt. Bei Technologiekonferenzen zu Beginn des Jahrtausends schien es zum guten Ton zu gehören, dass die fortschrittlichsten Denker ebenso demonstrativ wie unablässig ihre Mobiltelefone und Laptops benutzten. Heute, wo eine solche Veranstaltung erst mit den begleitenden Twitter-Kommentaren als vollwertig gilt, fordern Redner und Vorsitzende jedoch zunehmend auch eine Variante von Laniers Prinzip »erst zuhören, dann schreiben«. Eine gewisse Art von Konservativismus ist der neue Trend.

    Zeit ist die einzige Größe, von der mit der ganzen Technologie der Welt nicht ein einziges Partikelchen mehr erzeugt werden kann.
( Zeigerlose Uhr © Aaron Foster / Getty Images)
    Für sich allein konstituieren solche Annahmen und Trends noch kein Manifest. Sie bilden jedoch die Anfänge einer Haltung, welche die digitale Technologie auf ihren Platz verweist und ihre Rolle in unserem Leben definiert, anstatt ihre Präsenz in jedem Augenblick als gegeben hinzunehmen. Dank der Schwindel erregenden informationellen Möglichkeiten der neuen Medien ist Zeit mehr denn je unser kostbarstes Gut. Mit allen Technologien der Welt lässt sich keine einzige Sekunde mehr erzeugen. Die neuen Medien drohen das Zeitempfinden jedoch zu etwas zu machen, das der Politiktheoretiker Fredric Jameson als »fortwährende Gegenwart« bezeichnet hat, in welcher die Gesellschaft »die Fähigkeit verliert, ihre eigene Vergangenheit zu bewahren«.
    Für einige Menschen ist diese übermächtige Gegenwart zunehmend mit Stress, Ängsten und einem Gefühl des Kontrollverlusts verbunden. Ich bin jedoch der festen Überzeugung, dass wir hinsichtlich unseres Zeitempfindens als Individuen und als Gesellschaft nicht die Fähigkeit verloren haben, solche Entwicklungen rückgängig zu machen oder uns ihnen anzupassen. Im nächsten Kapitel werden diese Fähigkeiten zu Verständnis und Veränderung eingehender untersucht. Am wichtigsten jedoch ist, dass allen Bemühungen in dieser Richtung eine Erkenntnis vorangeht: Wir müssen in der Lage
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