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Wie man im digitalen Zeitalter richtig aufblueht

Wie man im digitalen Zeitalter richtig aufblueht

Titel: Wie man im digitalen Zeitalter richtig aufblueht
Autoren: Tom Chatfield
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eigene Direktverbindung mit der Welt in Kontakt stehen.
    Die Frage, die sich als erste aufdrängt, ist pragmatischer Natur: Was kommt als Nächstes? Kurzfristig betrachtet lautet die Antwort wahrscheinlich: noch mehr Mediennutzung an noch mehr Orten und zu noch mehr Zeiten. Wenn wir jedoch langfristig gut leben wollen, dann bedeuten diese Trends, dass wir über die verschiedenen Arten von Zeit in unserem Leben anders denken müssen.
    Ohne digitale Medien verbrachte Zeit ist nicht mehr der Normalzustand; vielmehr ist sie eine Erfahrung, die wir ohne vorhergehende explizite Absicht nicht mehr machen können. Man denke nur an die Schilder mit der Aufschrift »Ruhe bitte«, die sich in den meisten Zügen finden, oder an die Hinweise in Museen, Restaurants und anderen öffentlichen Räumen, die den Besucher auffordern, sein Mobiltelefon abzuschalten. Das sind buchstäblich Zeichen der Zeit: Hinweise darauf, dass die Abwesenheit digitaler Geräte heutzutage gesondert eingefordert werden muss.
    Wenn wir aus den Beziehungen zueinander und zu der Welt um uns das Beste machen wollen, müssen wir akzeptieren, dass es heute zwei grundverschiedene Daseinsformen gibt: den Online- und den Offline-Zustand. Den einen oder den anderen einfach nur zu beklagen hilft niemandem, denn jeder der beiden bietet ganz unterschiedliche Möglichkeiten des Denkens und Handelns. Wir müssen vielmehr lernen zu fragen – und unsere Kinder zu fragen lehren –, für welche Aspekte einer Aufgabe und des Lebens der eine oder der andere besser geeignet ist. Darüber hinaus müssen wir Mittel und Wege finden, beide möglichst effizient in unseren persönlichen Lebensstil einzubinden.
    2.
    Die größten Vorteile des Online-Daseins sind rasch aufgezählt. Wenn wir an das Schwarmdenken der Welt angeschlossen sind, steht uns in Sekundenbruchteilen vieles offen; wir haben Zugang zu einem großen Teil des Menschheitswissens – freilich auch zu Klatsch und Tratsch; durch ein paar Klicks können wir mit Tausenden anderer Menschen in Kontakt treten. Wir verfügen über gottgleiche Möglichkeiten und werden immer geschickter im Umgang mit ihnen.
    Man bedenke nur, was in wenigen Minuten der Recherche bei Wikipedia oder beim Durchstöbern urheberrechtsfreier Bücher bei Google alles erreicht werden kann. Vor nur einem halben Jahrhundert wäre eine Suche diesen Umfangs und dieser Geschwindigkeit jenseits der wildesten Träume aller Wissenschaftler gewesen, und doch kann sie heute fast jeder moderne Bürger problemlos durchführen. Wir sind von dieser Vergangenheit bereits so weit entfernt wie die damaligen Leser von der Welt vor Gutenberg, in der Besitz und Lektüre von Büchern einer kleinen Elite vorbehalten waren.
    Außerhalb der Online-Welt hingegen kommen unsere ureigenen Fähigkeiten auf ganz andere und wesentlich ältere Weise ins Spiel: unsere Fähigkeiten, zu delegieren, Entscheidungen zu treffen, aus eigenem Antrieb zu handeln; zu denken ohne die Angst, vorschnell abgeurteilt zu werden, oder das unangenehme Gefühl, dabei ständig ein Publikum zu haben. Wir sind mit uns selbst allein oder mit anderen zusammen, und zwar in einem völlig anderen Sinne als über das Internet.
    Dasselbe gilt für Privatleben und Beruf. Im Februar 2011 sprach ich neben der Autorin Lionel Shriver an der London School of Economics über den Einfluss neuer Technologien auf unser Schreiben und Denken. Sie beschrieb die Erfahrung des Schreibens »mit Publikum im Arbeitszimmer« – soll heißen: mit einer unmittelbar präsenten Masse an Online-Reaktionen auf das Geschriebene – und den Druck, den dies erzeugt, sich entweder selbst zu zensieren oder von vornherein gefällig zu schreiben. »Ich glaube, dass ich mich vor den Meinungen anderer Menschen schützen muss«, sagte sie und berichtete davon, wie sie einmal einen Zeitungsartikel geschrieben hatte, während ihr Ehemann ihr dabei über die Schulter sah. »Das kannst du nicht schreiben«, hatte er an einer Stelle gesagt. »Denk nur daran, wie sie letztes Mal im Netz darauf reagiert haben.«
    Dieses Bestreben, uns selbst zu schützen, lässt sich kaum von dem Gedanken trennen, dass wir zunächst wissen müssen, was dieses »Selbst« eigentlich ist, das es zu schützen gilt. Ein großer Teil dieses Buches ist den beachtlichen Fortschritten im kollektiven Denken und Handeln gewidmet, welche die Technologien unserer Zeit bereits bewirken. Mehr denn je wird jedoch klar, dass wir in unserem Leben auch etwas Zeit benötigen, ungestört
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