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Wie ich Rabbinerin wurde

Wie ich Rabbinerin wurde

Titel: Wie ich Rabbinerin wurde
Autoren: Elisa Klapheck
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den Krieg durchgesetzt und alle würden heute an sie glauben. Jedenfalls kann sie eine solche Schlagkraft entfalten, dass sich durch sie ein ganzes Volk stark und überlegen fühlt. Sie kann »erfolgreich« sein. Sie kann »funktionieren«. Oder gibt es doch etwas, das nicht nur unhinterfragbar, sondern von vornherein stärker und erfolgreicher ist und das Unrecht letztlich immer besiegen wird?
    Diese mich beunruhigenden Fragen verdichten sich zu einer Obsession. Sie rührt fortwährend an meiner Identität als Jüdin, die zu großen Teilen darin besteht, der Übermacht der Mehrheitsbevölkerung ausgesetzt und damit immer potentielles »Opfer« sein zu können. Dem entspricht auch die lange jüdischeGeschichte von Verfolgung und Vernichtung. Solange ich dem nicht eine stärkere Macht entgegensetzen könnte, so lange wäre auch ich ein potentielles Opfer, so lange könnte »es« wieder geschehen. Dagegen wäre auch der »kritische Ansatz« der Politologiestudenten machtlos.
    Ich ahne, dass diese andere Macht nur aus dem jüdischen Geist selbst hervorkommen kann. Doch diesen vermag ich – außer als Geschichte von Verfolgung und Vernichtung – nicht zu bestimmen. Stattdessen beiße ich mich an den »Vernichtern« fest, will ihnen auf die Schliche kommen, lese besessen die Werke von Nazi-Vordenkern: Nietzsche, Spengler, von Clausewitz, Carl Schmitt oder Heidegger – nicht die primitiven Antisemiten, sondern die elitären Denker, die zu fein waren, um sich im Judenhass zu suhlen, und in deren Weltbild das Jüdische gar nicht vorkommt. Meine Obsession beschränkt sich nicht nur auf deutsche Autoren. Genauso lese ich Bücher von elitären Denkern, die einen angelsächsisch geprägten Liberalismus entwickeln, der von allem Jüdischen genauso »gereinigt« ist, ohne sich hierfür jedoch in feindselige Abgrenzungen zu ergehen – ein Weltbild, in dem das Jüdische von vornherein keinen Ort hat. Anhand solcher, von mir als »antijüdisch« empfundener Denker versuche ich, für mich das Jüdische als Gegenpol auszumachen. Doch es will mir nicht gelingen.
     
    Seit jenem Frühsommertag tauchen wir jedes Wochenende ohne inhaltliche Vorgaben und ohne Zeitdruck in den biblischen Text ein. Satz für Satz, Wort für Wort, Buchstabe für Buchstabe. Kein Rabbiner, kein Lehrer, kein besser Bewanderter schreibt uns vor, wie wir ihn zu lesen und zu verstehen hätten. Sehr langsam, mit größtem Ernst bei der Sache, aber auch mit viel Vergnügen bewegen sich Michal, Gabi, Rita und ich durch die ersten Kapitel des
Tanach
. Jede bringt eine eigene Perspektive ein. Wir folgen jedem Einfall, jeder Idee, jeder symbolischen Bedeutung, die hinter dem Geschriebenen stehen könnte.
    Die Rolle des Weiblichen ist ein Thema, über das wir lange diskutieren. Von der deutschen Übersetzung her sind wir andie Männlichkeit Gottes gewöhnt. Doch im hebräischen Original lösen sich die männlichen Attribute Gottes vollkommen auf. Der Begriff
Elohim
ist nicht männlich. Ebenso wenig ist es der für Juden unaussprechbare Name Gottes, das Tetragramm
JHWH
, an dessen Stelle in der deutschen Übersetzung »der Herr« steht.
    Rita klärt uns auf, dass
JHWH
eine Symbiose von
haja

howej

jehi
sei: »es war – es ist – es wird sein«, also: »ewig seiend«. Nur so lesen und verstehen wir ab jetzt das Tetragramm.
    Auch die zwei verschiedenen Schöpfungsberichte – die Erschaffung der Welt in sieben Tagen im ersten Kapitel und die Erschaffung Evas aus Adam im zweiten – bekommen im hebräischen Original eine unvermutet neue Wendung. Wir analysieren sie minutiös und stellen fest, dass nicht der Mann, sondern die Frau – noch vor dem Mann – erschaffen beziehungsweise herausgestellt oder erkennbar wird.
Adam
heißt auf Hebräisch »Mensch«. Der erste Mensch ist sowohl männlich als auch weiblich. Dann versetzt ihn Gott in einen Schlaf und entnimmt ihm eine
zela
. Dieses Wort wird üblicherweise mit »Rippe« übersetzt, heißt aber zugleich auch »Seite«. Gott nimmt aus dem Menschen eine »Seite« und stellt sie als »Frau« heraus – als ein Medium zwischen Mensch und Gott. Dieses Medium, das gebären und somit die Schöpfung fortsetzen kann, weist über die Sterblichkeit des Menschen hinaus, bettet ihn in ein ewiges Weiter ein und überwindet die Einsamkeit des Todes. Der Mensch erkennt in dem von Gott geschaffenen Medium die »Frau« und erst an diesem Medium sich selbst als »Mann«.
    Der Name Adam wird zur Chiffre für »Menschheit«. Diese
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