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Wie ich Rabbinerin wurde

Wie ich Rabbinerin wurde

Titel: Wie ich Rabbinerin wurde
Autoren: Elisa Klapheck
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ich ihr fast nichts mehr und werfe ihr vor, die Nazizeit zu benutzen, um mich damit zu drangsalieren.
    Die eigentliche Initiationsszene geschieht, noch Jahre bevor ich ins Internat eingeschult werde, als ich mich mit meinem Bruder streite und ihn unversehens ohrfeige. Lilo, die diese Szene beobachtet hat, ist fassungslos: »Was? Du schlägst deinen jüngeren Bruder – den Schwächeren? Wie ein S S-Mann !« Dann reißt sie mich an der Hand in Konrads Zimmer. Dort steht ein großer Bücherschrank mit vielen Kunstbüchern. Daneben ein Regal mit »jüdischer« Literatur. Es sind Bücher über das N S-Regime . Lilo zieht den Band
Der gelbe Stern
heraus und fordert mich immer wieder auf, die Fotos anzusehen. Zum ersten Mal sehe ich die Schwarzweiß-Aufnahmen von S S-Män nern und gepeinigten Juden, von ausgehungerten, halb toten Menschen im Warschauer Ghetto und von Leichenbergen in Auschwitz.
    Lilo ist von ihrem Verhalten selbst schockiert. Sie verbietet mir, noch mal an dieses Bücherregal zu gehen. Ich sei noch zu jung dafür. Doch ich kann mich von diesem Thema nicht mehr lösen. Wenn ich zu Hause allein bin, gehe ich sofort an das Regal und lese so in kürzester Zeit alles, was Lilo dort an Literaturüber die N S-Zeit gesammelt hat. Es sind zwei lange Bücherreihen mit Berichten von Überlebenden, Analysen des N S-Systems und immer wieder albtraumhaften Fotos von Massengräbern, Ghettos und Lagern, von Gaskammern, Krematorien, Baracken und Stacheldraht, von Kindern mit eintätowierten Nummern auf dem Arm, von nackten Männern und Frauen vor der Gaskammer, von gefolterten, ausgemergelten Menschen in Häftlingsuniformen. Irgendwo dort ist auch ein Teil meiner Familie verschwunden. Heimlich durchstöbere ich den Biedermeiersekretär in Lilos Zimmer und finde dort Dokumente, die ihren Vater, David, für tot erklären, Briefe von einem Freund Davids an Anita, der in derselben Baracke in Auschwitz war und mit ihm zusammen Sklavenarbeit geleistet hat, einen Ausweis Anitas vom Entschädigungsamt und ihre Anerkennung auf Wiedergutmachung.
    All dies beziehe ich auch auf mich. Aber aus Lilos Mund ertrage ich es nicht, es zu hören. Ich flüchte zu »Oma Anna« – meinem einzigen Großelternteil, der noch am Leben ist, Konrads Mutter, die Kunstprofessorin. Sie gehört zur ersten Generation von Studentinnen in Deutschland. Ich besuche sie, sooft ich kann. Anna erzählt mir »bessere« Geschichten, von denen ich nicht genug hören kann – wie sie aus ihrem großbürgerlichen Elternhaus ausbricht und zeitgleich mit Hannah Arendt in den 20er Jahren in Marburg Philosophie, Kunstgeschichte und Archäologie studiert, wie sie eine Romanze mit ihrem Professor hat, wie mein Großvater Richard, ein Lebemann und Kunstprofessor, nach nur einer Begegnung mit ihr beschließt, sie zu heiraten, wie sie und Konrad in einem sächsischen Dorf von den Russen befreit werden und sie als einzige Nazi-Gegnerin einen bevorrechtigten Status vor all den anderen Frauen genießt. »Elisa ist mein Kind«, sagt Anna. Sie erzählt mir, dass sie sich eine weniger schwierige Schwiegertochter als Lilo gewünscht habe – eine, die »in einer netten Gesellschaft nicht gleich von Auschwitz anfängt und damit die Stimmung zerstört«. Anna ist die Einzige, der ich die Szenen zwischen Lilo und mir anvertraue, wenngleich ich ihr die schlimmsten Momentenicht beschreibe. Ich gehe nur bis zu einem gewissen Punkt – ab da schütze ich Lilo, vielleicht auch mich selbst. Auch wenn ich Lilo kaum etwas glaube, will ich nichts von Anna hören, das Lilos Erinnerungen entwerten könnte. Anna meint, dass Lilo in eine gesellschaftlich höher stehende Familie eingeheiratet habe und deswegen dankbar sein müsste. Doch Lilo meint, dass Annas Familie, also Konrads Verwandte, in ihrem arroganten, bildungsbürgerlichen Dünkel nicht besser seien als all die anderen Deutschen, die – selbst wenn sie keine Nazis waren – unbeteiligt zusahen, als die Juden abholt wurden.
     
    Nach nur drei Jahren muss mich Lilo wieder aus dem Internat abholen. Meine Eltern wollen es mir zuerst nicht glauben: Mit zielstrebiger Disziplin habe ich es geschafft, schon mit 16   Jahren das englische Abitur abzulegen – viel früher als erwartet. Lilo, die mich drei Jahre zuvor ins Internat gefahren hat, holt mich wieder ab. »Ich weiß ja, dass du dich stärker als ich fühlst«, hat sie mir schon oft gesagt, oder: »Jetzt kannst du dich mir ja wieder überlegen fühlen.« Doch auf der Autofahrt nach
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