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Wie funktioniert die Welt?

Wie funktioniert die Welt?

Titel: Wie funktioniert die Welt?
Autoren: John Brockman , Herausgegeben von John Brockman
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Unwissen
    Tolstoi stand unserem Verständnis vom Zufall skeptisch gegenüber. Als Beispiel nannte er eine Schafherde, in der ein Tier zur Schlachtung ausgewählt wurde. Dieses eine Schaf erhält getrennt von den anderen zusätzliches Futter, und Tolstoi malte sich aus, dass die Herde, die nichts über die bevorstehende Schlachtung weiß, das ständig dicker werdende Schaf ungewöhnlich finden muss – was die anderen Schafe mit ihrer begrenzten Sichtweise nach seiner Ansicht auf Zufall zurückführen würden. Tolstois Lösung: Die Schafherde sollte nicht mehr glauben, dass Dinge nur geschehen, »damit ihre Schafsziele erreicht werden«, sondern sich stattdessen vorstellen, dass es verborgene Ziele gibt, mit denen sich alles vollständig erklären lässt, so dass man sich nicht auf den Zufall berufen muss.
     
    Zufall als unsichtbare Macht
    Ähnliche Gedanken veröffentlichte C.G. Jung 83  Jahre später in seinem allgemein bekannten Aufsatz »Synchronizität als ein Prinzip akausaler Zusammenhänge«. Darin postulierte er eine verborgene Macht, die dafür sorgt, dass scheinbar gekoppelte Ereignisse, zwischen denen ansonsten kein Kausalzusammenhang zu bestehen scheint, gleichzeitig auftreten. Die zu Beginn zitierte Geschichte über die sechs Fische stammt aus Jungs Buch. Er findet diese Kette von Ereignissen ungewöhnlich – so ungewöhnlich, dass man sie nicht dem Zufall zuschreiben kann. Vielmehr glaubt er, da müsse etwas anderes am Werk sein, und das bezeichnet er als Prinzip akausaler Zusammenhänge.
    Persi Diaconis, Mary V. Sunseri Professor für Statistik und Mathematik an der Stanford University und einer meiner früheren Professoren, steht Jungs Beispiel kritisch gegenüber: Angenommen, der Gedanke an einen Fisch begegnet uns durchschnittlich einmal am Tag – entsprechend einem Poisson-Prozess, wie die Statistiker es nennen (schon wieder ein Bezug zu Fischen!). Das ist ein mathematisches Standardmodell für Zählungen – der radioaktive Zerfall beispielsweise erfolgt offenbar nach einem Poisson-Prozess. Das Modell geht davon aus, dass Beobachtungen im Durchschnitt mit einer bestimmten, festgelegten Häufigkeit gemacht werden, ansonsten aber zufällig verteilt sind. Wir können also Jungs Beispiel als Poisson-Prozess betrachten, wobei auf lange Sicht durchschnittlich eine Beobachtung je 24  Stunden stattfindet; dann berechnen wir, wie wahrscheinlich es ist, dass wir den Fisch in einem Zeitraum von 24  Stunden sechsmal oder häufiger beobachten. Nach Diaconis’ Berechnungen liegt diese Wahrscheinlichkeit bei ungefähr 22  Prozent. So betrachtet, hätte Jung sich nicht allzu sehr wundern sollen.
     
    Die statistische Revolution: Zufall in Modellen der Datenerzeugung
    Nur rund 20  Jahre nachdem Tolstoi seine Zeilen über die Schafe zu Papier gebracht hatte, sorgte der englische Mathematiker Karl Pearson in der wissenschaftlichen Welt für eine statistische Revolution: Er hatte eine neue Idee über die Entstehung von Beobachtungen – es war der gleiche Gedanke, von dem Diaconis sich auch bei seinen Wahrscheinlichkeitsberechnungen leiten ließ. Pearson äußerte die Vermutung, dass die Natur uns Daten präsentiert, deren Verteilung unbekannt ist, die aber bis zu einem gewissen Grade zufällig gestreut sind. Er hatte die wichtige Erkenntnis, dass dieses Konzept sich von dem des Messfehlers unterscheidet, durch den ein zusätzlicher Fehler hinzukommt, wenn man die Beobachtungen tatsächlich aufzeichnet.
    Vor Pearson beschäftigte sich die Wissenschaft mit »realen« Dingen, beispielsweise mit den Gesetzen, die die Bewegung der Planeten oder die Strömung des Blutes in Pferden beschreiben (um Beispiele aus dem Buch
The Lady Tasting Tea
von David Salsburg zu nennen). Pearson schuf die Voraussetzungen für eine wahrscheinlichkeitsorientierte Weltsicht. Planeten unterliegen den Gesetzen auch dann nicht mit hundertprozentiger Präzision, wenn man den Messfehler in Rechnung stellt. Der Blutstrom ist in verschiedenen Pferden jeweils unterschiedlich, aber das Kreislaufsystem der Pferde ist kein reines Zufallsprodukt. Wenn wir nicht die Phänomene selbst betrachten, sondern Wahrscheinlichkeiten abschätzen, können wir durch Abstraktion zu einem genaueren Bild der Welt gelangen.
     
    Wahrscheinlichkeitsverteilungen als Beschreibung des Zufalls
    Der Gedanke, dass Messungen als solche einer Wahrscheinlichkeitsverteilung unterliegen, war eine deutliche Veränderung gegenüber der Vorstellung, der Zufall
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