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Wie Du Mir

Wie Du Mir

Titel: Wie Du Mir
Autoren: Ellen Dunne
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Polizisten. Diese Männer sollten töten, nicht erschrecken. Das ergab keinen Sinn.
    „Jenny?“
    Vielleicht waren sie nervös geworden. Vielleicht war Mittel-im-Hemd doch ein Anfänger und hatte Schiss bekommen. Vielleicht …
    Er hörte Jenny nicht. Vorhin hatte er sie doch auch gehört. Ihren aufschlagenden Körper auf der Treppe. Jetzt gar nichts mehr.
    „Jenny, alles in Ordnung?“
    Langsam kam er auf die Beine. Die sportlichen Tage seines Streifendienstes waren schon lange vorbei.
    Er konnte immer noch nicht glauben, dass sich die Terroristen einfach aus dem Staub gemacht hatten. Dass Jenny noch immer nichts sagte.
    Sie ist im Schock und kann nicht reden, aber das wird wieder. Ein bisschen Therapie, dann ist sie wieder die Alte. Und dann ziehen wir endlich aufs Land.
    Angst begann sein Herz einzuspinnen. Angst vor dem wahren Grund für die Stille. Dass Mittel-im-Hemd sie doch erschossen und nur gelogen hatte, um sich die Umstände von Wills Reaktion zu ersparen. Plötzlich erschien ihm der Wohnzimmerboden wie Treibsand, dem er sich bei jedem Schritt mit aller Kraft entziehen musste. Er schob sich um die Ecke in den Vorraum.
    Da lag Jenny, bäuchlings am unteren Drittel der Treppe, ähnlich ihrer typischen Schlafposition. Sie musste nach dem Sturz nach unten gerutscht sein. Ihr Schlaf-Shirt war bis zur Hüfte hochgezogen, die nackten Beine noch zu einem Schritt angewinkelt. Ihr rechter Oberschenkel war voller Blut, das in üppigem Rot bis zur Ferse hinunterfloss, sich dort weiter an ihre Fußsohle klammerte und erst von ihren Zehen tropfte. Auf die Treppe, auf den beigefarbenen Spannteppich am Treppenabsatz. Ihr Gesicht lag auf der Treppe, die Stirn auf der Kante einer Stufe, als ruhe sie sich aus. Es war kein Blut zu sehen, doch die Form ihres Kopfes sah seltsam aus. Irgendwie flach.
    Gott, lieber, lieber Gott, bitte nicht.
    Er ließ sich neben ihr auf der ersten Stufe nieder, beugte sich nah an ihr Gesicht. Sein eigenes Blut und der Lärm des Schusses rauschten noch immer in seinen Ohren.
    „Jenny, sie sind weg. Warte, ich helf dir.“
    Er schob seinen Arm unter ihrer Brust hindurch, fasste sie an der rechten Schulter. Sie leistete keinen Widerstand.
    Er zog sie zu sich und drehte sie um. Ihr Kopf kippte zur Seite. Quer über ihre Stirn hatte die Treppenkante eine Furche aus Blut geschlagen. Auf ihrem Grund glaubte er das Weiß von Knochen zu erkennen.
    Danach verlor sich jede Wahrnehmung in allumfassendem Wahnsinn.
    Roger Richardson von gegenüber in seinem altmodischen Herrenpyjama, der ihn voll Abscheu anstarrte.
    Will, du bist ja voller Blut.
    Kollegen in Uniform, die ihn mit sanfter Gewalt von Jennys Körper trennten, so wie er selbst das in seinen Streifenzeiten mit Hinterbliebenen getan hatte. Die Traube von Sanitätern, die tatenlos um sie herumstanden. Blaulicht-Fetzen, die über Backsteinhaus-Fassaden flatterten.
     
    Die Boulevardpresse habe der Geschichte sogar ihre Titelseiten gewidmet, erzählte man Will später. Ungewöhnlich für ein von Terror heimgesuchtes Land. Aber Tragödien zogen eben immer.
    Claire, die Fürsorglichkeit in Person, hatte Will alle Artikel ausgeschnitten und nach Datum sortiert aufbewahrt, weil sie irgendwo gehört hatte, dass das für die Verarbeitung von Traumata hilfreich sei. Einen Monat später, eingepackt in die wattige Wärme von Valium, hatte er sich entschlossen, sie anzusehen.
    Viermal Titelseite am 8. März 1993.
    Der Tod kam nach Mitternacht.
    Schuss aus IRA-Waffe verursacht tödlichen Sturz.
    Und, besonders geistreich:
    Provos brechen der Unschuld das Genick.
    Ab 9. März schrumpften die Buchstaben zusehends. Die auf Jennys und Wills Schicksal verwendete Wortanzahl wurde geringer, um Platz zu lassen für den Bericht über einen Anschlag auf eine Militärbaracke in Crossmaglen. So war das hier. Man trauerte einen Augenblick um das verlorene Leben, nur um schnellstmöglich wieder die Reihen zu schließen und weiterzuziehen, wie eine Antilopenherde nach ihrer Dezimierung durch Löwen.
    Und so stand er, Witwer und auf dem Weg aus den besten Jahren, in seiner Küche und widmete sich seinem Dinner for one. Schälte, rieb und briet Kartoffeln, schnetzelte Wurst und Champignons, briet sie, wärmte seinen Teller. Wartete auf eine zugelaufene Katze.
    Auf dem Weg ins Wohnzimmer klingelte das Telefon. Einen Augenblick spielte er mit dem Gedanken, nicht zu Hause zu sein. Er hatte aber keine Lust, sich während des Abendessens den Kopf über einen verhinderten Anruf zu
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