Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Wie die Iren die Zivilisation retteten

Wie die Iren die Zivilisation retteten

Titel: Wie die Iren die Zivilisation retteten
Autoren: Thomas Cahill
Vom Netzwerk:
durch genau die Mächte
    zerstört, die er erschaffen hatte.«
    Damit liegt McNeill auf der vernünftigen, von Armut und Bedürf-
    tigkeit ausgehenden Linie Machiavellis. Doch wie uns die klassischen Historiker gezeigt haben, gibt es verschiedene Möglichkeiten, diesen enormen Wandlungsprozeß zu betrachten. Warum waren die Grenzen so spärlich bewacht? Haben die Römer – zu keinem Zeitpunkt –
    realisiert, daß ihr Leben sich für immer veränderte? Haben sie nie erwogen, etwas anderes zu tun, als sich in das Unausweichliche zu fügen? Was dachten sie überhaupt? Um diese Fragen zu beantworten
    und ein vollständigeres Bild der römischen Gesellschaft zu erlangen, wenden wir uns an einen typischen Römer, der geholfen hat, die Welt 21
    der späten Antike aufzubauen. Die Attacke der Barbaren über den
    gefrorenen Rhein fand in der ersten Dekade des fünften Jahrhunderts statt. Wir wollen einen Schritt weiter zurückgehen – ins vierte Jahrhundert und einem Mann begegnen, dessen Lebensstil uns einige der gewaltigen Mängel in der römischen Gesellschaft offenbaren wird, die direkt in die Katastrophen des fünften Jahrhunderts führten. Es ist Ausonius, der Dichter. Er besaß ein beeindruckend großes, hervorragend instand gehaltenes Landgut in Bordeaux in der Provinz Gallien sowie, nach dem Tod seines Vaters, ein weiteres eindrucksvolles
    Landgut in Aquitanien. Nur einhundert Jahre vor dem germanischen
    Sturm über den Rhein geboren, wurde er nicht von seiner Mutter
    aufgezogen, an die er offenbar keine sonderlich positiven Erinnerungen hat, sondern von zwei Drachen: einer Großmutter und einer
    Tante, die beide Aemilia hießen.
    In seiner Parentalia, was man am besten mit Totenfeier für die Vorfahren übersetzt, beschreibt er ihre Tugenden. Von Großmutter Aemilia berichtet er:

    et non deliciis ignoscere prompta pudendis
    ad perpendiculum seque suosque habuit.
    Für fragwürdige Freuden hatte sie nichts übrig,
    aber sie hielt sich und ihren Haushalt strengstens aufrecht.

    Die andere Aemilia scheint ziemlich groß gewesen zu sein:

    Aemilia, in cunis Hilari cognomen adepta,
    quod laeta et pueri comis ad effigiem,
    reddebas verum non dissimulanter ephebum.
    Aemilia, du bekamst in der Wiege den Spitznamen die Muntere,
    denn du warst lustig wie ein Knabe –
    und ohne Anstrengung sahst du auch immer aus wie ein Jüngling.

    Die rhetorische Entwicklung, die wir hier bemerken, führt uns innerhalb von drei Verszeilen durch drei Stufen des Alters: Kleinkind (in cunis); Knabe (pueri) und Jugendlicher (ephebum). Aemilia, wenn-22
    gleich stramm, wird nie so groß wie ein Mann. Doch etwas wächst in Aemilia.
    Tante Aemilia bekommt bessere Noten als Großmutter Aemilia,
    auch wenn sie gegen das Kind Ausonius oft streng gewesen sein muß; als Mann bezeichnet er ihre virgo devota entschlossene, Jungfräulichkeit – als so resolut, daß

    feminei sexus odium tibi semper et inde
    crevit devotae virginitatis amor.
    Der Haß gegen das weibliche Geschlecht in dir wuchs und
    daraus deine Liebe zur geweihten Jungfräulichkeit entsprang.

    Auch wenn ich mich etwas über diese Verse lustig mache, Ausonius
    ist es ernst. Ich übersetze einige zweideutige Zeilen, um ihre Zwei-deutigkeit herauszuheben. Ausonius jedoch hat diese Zeilen in konventionelle Äußerungen eingebettet, die nicht origineller oder interessanter sind als das, was wir von heutigen Grußkarten kennen. So
    beschließt er beispielsweise das Gedicht auf seine Großmutter:

    haec me praereptum cunis et ab ubere matris
    blanda sub austeris inbuit inperiis.
    tranquillos aviae cineres praestate, quieti
    aeternum manes, si pia verba loquor.

    Mit solchen Freundlichkeiten zog sie mich –
    der Wiege und der Mutterbrust entrissen – auf,
    doch sie waren gehüllt in strenge Befehle.
    Die Asche meiner Großmutter ruhe in Frieden,
    in ewig stillen Schatten,
    wenn ich die richtigen Gebete spreche.

    Ausonius’ Freunde sollten vermutlich merken, daß dies eine schwa-
    che Lobrede war – doch nur daran, daß sein Lob indirekt die Auf-
    merksamkeit auf ihn selbst lenkte. Der liebe Ausonius, sollten sie aufseufzen; diese Frauen waren so hart zu ihm, und dennoch ist er so 23
    treu und vollzieht alle Riten – pia verba, gläubige Worte –, wie man es von ihm erwartet.

    Ausonius’ Dichtkunst ist voller pia verba; mit Ausnahme der gele-
    gentlichen, nur halb intendierten Erscheinungen (wie in den Gedichten über die beiden Aemilias) findet sich kaum etwas anderes. Es gibt
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher