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Wie die Iren die Zivilisation retteten

Wie die Iren die Zivilisation retteten

Titel: Wie die Iren die Zivilisation retteten
Autoren: Thomas Cahill
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und nur wenige würdigen die atembe-raubende Dramatik dieses Kultur-Thrillers. Dies liegt vermutlich
    daran, daß es leichter ist, statische Zustände zu beschreiben (erst klassisches Altertum, dann Mittelalter) als Bewegung (vom klassischen Altertum zum Mittelalter). Außerdem sind die meisten Historiker Experten für die eine oder die andere Epoche, so daß eine Analyse der Übergangszeit nicht in ihren – und in niemandes? – Kompetenz-bereich gehört. Zumindest kenne ich kein einziges erhältliches Buch, das sich mit der Übergangszeit beschäftigt oder in dem dieses Thema eine wichtige Rolle spielt.
    Wenn wir dieses Manko ausgleichen wollen, sollten wir uns selbst
    die große Frage stellen: Wie real ist Geschichte? Ist sie einfach eine riesige Suppe mit so vielen verschiedenen Zutaten, daß sie nicht zu beschreiben ist? Stimmt es, daß – wie Emil Cioran anmerkte – Geschichte nichts beweist, da sie alles enthält? Bedeutet das nicht auch, daß Geschichte all das aussagen kann, was wir von ihr hören wollen?
    Ich glaube eher, daß jede Ära die Geschichte neu schreibt, indem sie die Dokumente und Schriften anderer Zeiten aus ihrer eigenen günstigen Perspektive neu betrachtet. Die Geschichte Irlands, die wir in der Schule lesen und auf die wir uns später beziehen, ist größtenteils von protestantischen Engländern und angelsächsisch-protestantischen Amerikanern geschrieben worden. Bestimmte zeitgenössische Historiker haben entdeckt, daß auf solche Autoren nicht immer Verlaß ist, zum Beispiel, wenn es um den Beitrag der Frauen oder der Afroame-rikaner geht. Daher sollte es uns nicht überraschen, daß diese Ge-schichtenerzähler einen enormen, in ferner Vergangenheit geleisteten Beitrag übersehen haben, der sowohl keltisch als auch katholisch war; einen Beitrag, ohne den die europäische Zivilisation unmöglich gewesen wäre.

    Für einen gebildeten Engländer des letzten Jahrhunderts beispielsweise waren die Iren von Natur aus nicht zur Zivilisation fähig. »Die Iren«, erklärte Benjamin Disraeli, der geliebte Premierminister von 11
    Königin Viktoria, »hassen unsere Ordnung, unsere Zivilisation, unsere kühne Industrie, unsere reine Religion (Disraelis Vater hatte das Judentum aus der Kirche von England verbannt). Diese wilde, rücksichtslose, träge, unsichere und abergläubische Rasse hat keinerlei Verständnis für den englischen Charakter. Ihr Ideal menschlichen
    Glücks wechselt zwischen Stammesklüngeleien und primitiver Göt-
    zenverehrung (d. h. Katholizismus). Ihre Geschichte beschreibt einen ständigen Kreislauf aus. Bigotterie (!) und Blut.« Der boshafte Rassis-mus und die verknöcherten Vorurteile dieser Beschreibung mögen für uns evident sein, doch in den Tagen des »lieben alten Dizzy«, wie die Queen den Mann nannte, der ihr Indien geschenkt hatte, galt dies als unbestrittene Wahrheit.

    Natürlich hatten sogar die selbstgefälligen Kolonisten des kleinen Reiches der Queen gelegentlich Bedenken: Waren womöglich die
    Eroberer verantwortlich für den Zustand der Kolonisierten? Doch sie unterdrückten schnellstens jeden Zweifel und hüllten sich in ihre wasserdichte Überlegenheit, wie auch diese Antwort des Historikers Charles Kingsley auf das vom Hunger verursachte Elend beweist, das er im viktorianischen Irland gesehen hatte: »Ich bin von den menschlichen Schimpansen, die ich auf diesen hundert Meilen schrecklichen Landes gesehen habe, entsetzt. Ich glaube nicht, daß das unsere Schuld ist. Ich glaube, daß es nicht nur mehr von ihnen gibt als früher, sondern daß sie unter unserer Regierung glücklicher, besser und ordentlicher gefüttert und gebettet werden als je zuvor. Aber es ist schrecklich, weiße Schimpansen zu sehen; wären sie schwarz, würde man es nicht so deutlich empfinden, aber ihre Haut ist, wenn nicht durch die Sonne gebräunt, so weiß wie unsere.«

    Leider können wir uns nicht damit trösten, daß eine solche Denkweise längst von der Bildfläche verschwunden ist. Der angesehene Historiker Anthony Grafton aus Princeton schrieb kürzlich in The New York Review of Books über die Geschichtsabteilungen der besseren amerikanischen Universitäten: »Es war üblich, die katholische Kultur – wie auch die meisten Katholiken – als das Gebiet eines niederen Men-12
    schenschlages zu verachten, gerade mal geeignet für die berühmten Konfessionsschulen, in denen Nonnen ihre Schülerinnen dazu anhiel-ten, bei einer Verabredung niemals Ravioli zu bestellen, damit
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