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Wie die Iren die Zivilisation retteten

Wie die Iren die Zivilisation retteten

Titel: Wie die Iren die Zivilisation retteten
Autoren: Thomas Cahill
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Namen braccae – Hose – gehüllt. Sie kennen keine Disziplin; sie
    brüllen einander an und laufen chaotisch umher. Sie sind schmutzig und stinken. Ein altes Weib in einem fleckigen Umhang rührt in
    einem Kessel und wirft gelegentlich Wurzeln und ein paar Stücke
    ranziges Fleisch in das Gebräu. Sie schneidet eine Karotte quer, so daß runde Scheiben wie blinde gelbe Augen auf der Suppe schwimmen.
    Diese ungleichen Porträts der beiden Mächte hätten nicht nur der
    Sicht der Römer entsprochen, sondern auch der der Germanen (denn
    diese Menschenmenge ist germanischer Herkunft, wie alle Eindring-
    linge dieser Zeit). Für die Römer waren die germanischen Stämme

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    bloßes Gesindel; für die Germanen war das römische Ufer das Ziel
    ihrer Träume. Die eingängigste Parallele zu dieser Konstellation spielt sich an der Südgrenze der Vereinigten Staaten ab. Dort sind die auf Hochglanz polierten Truppen die Einwanderungspolizei; die wilden
    Horden sind die Mexikaner, Haitianer und andere besitzlose Men-
    schen, die illegal einwandern wollen. Die Römer betrachteten die
    Einwanderung der Barbaren nicht als Gefahr, weil es eben nur eine Einwanderung war – eine seit Jahren andauernde Einwanderung –
    und kein organisierter, bewaffneter Angriff. Und es ging ja auch
    schon seit Jahrhunderten so. Die ersten barbarischen Eindringlinge waren die Gallier gewesen, Hunderte von Jahren zuvor, und nun
    herrschte Frieden in Gallien. Die Verse seiner Dichter und die Produk-te seiner Weinberge waren Zwillingsquellen der römischen Inspirati-on. Die Gallier waren römischer geworden als die Römer selbst.
    Warum sollte nicht das gleiche mit den Wandalen, Alanen und Swe-
    ben passieren, die sich da am gegenüberliegenden Ufer in eine regel-rechte Rage hineinsteigerten?
    Als die unglückseligen Germanen schließlich über die Eisbrücke
    ziehen und angreifen, geschieht das ohne jegliche Vorüberlegung
    oder Strategie. Mit absurdem Mut strömen sie in konvulsivischen
    Wellen über den Rhein – die Verzweiflung ist ihre stärkste Waffe. Die Zahl der Opfer läßt uns ahnen, wie viele sie waren und wie groß ihre Verzweiflung: Allein die Wandalen sollen bei dem Übertritt zwanzig-tausend Männer (Frauen und Kinder nicht mitgezählt) verloren
    haben. Trotz ihrer Disziplin können die Römer das germanische Meer nicht aufhalten.
    Zumindest aus dieser Perspektive sind die Römer also zahlenmäßig
    überwältigt worden – nicht nur bei diesem Zusammenprall, sondern
    im Laufe von Jahrhunderten der Einwanderung an den porösen
    Grenzen des Reiches. Hin und wieder kam eine ganze Welle von
    Barbaren, wenn auch kaum eine so groß war wie diese. Viel öfter
    kamen sie tröpfchenweise: als Handwerker, die eine ehrliche Arbeit suchten; als Krieger, die sich in die römischen Legionen einreihten; als Sippenhäuptlinge, die für Land bezahlten; als Plünderer, die brannten und raubten und manchmal vergewaltigten und mordeten.
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    Der Grund für ihren Aufbruch war die Landwirtschaft, die sie von
    ihren römischen Nachbarn gelernt hatten. Nachdem sich die Barbaren im Norden des Reiches vom Nomadenleben des Jägers verabschiedet
    hatten und zu Bauern geworden waren, stieg die Bevölkerungszahl
    aufgrund der verläßlichen Kornspeicher zwangsläufig explosionsartig an. Es liegt auf der Hand, daß Bauern länger leben und viel mehr ihrer Kinder heranwachsen sehen als Jäger, deren kostbares Leben –
    wie auch das ihrer Nachkommen – wie ein Drahtseilakt ohne Netz
    verläuft. Die Bauern haben den Kornspeicher als Netz – mehr Nah-
    rung, als momentan benötigt wird. Diese altertümliche Form von
    Geld auf der Bank diente seit ewigen Zeiten als Grundlage für ein langes Leben, weitreichende Zukunftsplanung und alle Fertigkeiten der Zivilisation.
    Doch aufs Ganze gesehen, ist die Formel ebenso unabänderlich wie
    archaisch: Ökonomischer Erfolg in Form eines Kornspeichers führt zu sprunghaftem Wachstum der Bevölkerung, die wiederum bald das
    Bedürfnis nach mehr Land verspürt, um mehr Münder stopfen zu
    können. Elf Jahrhunderte vor dem Zusammenprall am Rhein hatte
    sich eine unbedeutende Gruppe lateinisch sprechender Bauern »auf
    die Landwirtschaft verlegt und löste das Problem der Bevölkerungsexplosion, indem sie einen Eroberungszug begann, der schließlich auf das Römische Reich zusteuerte«, bemerkt der zeitgenössische Historiker William McNeill. »Betrachtet man die Ereignisse in diesem Licht, so wurde der römische Staat im Westen
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