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Wie der Vater so der Tod

Wie der Vater so der Tod

Titel: Wie der Vater so der Tod
Autoren: Tracy Bilen
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seinen Wagen gelehnt. Soll ich dich nach Hause bringen, Sara?
    Wenn ich eingestiegen wäre … Hätte er mir dann alles erzählt?
    Und wenn du mir alles erzählt hättest, Matt, wäre es dann anders gekommen? Hätte ich die richtigen Worte gefunden und verhindert, dass du uns für immer verlässt? Klar, so etwas habe ich nicht erwartet. Aber he, manchmal sind Überraschungen das Beste am Leben! Ich habe dich geliebt, Matt. Ich habe dich geliebt, weil du einfach du warst. Verdammt, Matt, warum bist du nicht bei uns geblieben?
    »Er hat dir nichts erzählt, weil er es niemandem erzählt hat, Sara. Ich wusste nur davon, weil ich bei euch zu Hause war, kurz nachdem dein Vater seine Wut an Matt ausgelassen hatte. Das war eine Woche, bevor …«
    »Matt hat erklärt, er sei die Kellertreppe hinuntergefallen.« Als Matt mir davon berichtete, wusste ich, dass es eine Lüge war. Aber ich wollte ihm glauben. Und wieder einmal tat ich nichts, bat niemanden um Hilfe. Ich fragte nicht einmal, warum mein Vater wo wütend gewesen war. Vermutlich ging ich davon aus, dass er keinen besonderen Anlass brauchte.
    »Wieso hast du mir nie etwas davon gesagt, Zach?«
    Daraufhin sieht er mich an. »Ich dachte, es spielt keine Rolle mehr.« Er wendet sich erneut ab. »Oder vielleicht lautet die Wahrheit: Es war einfacher, alles für mich zu behalten.«
    Ich habe dieses leere Gefühl im Bauch. Wieso hatte ich über einen so wichtigen Bereich im Leben meines Bruders nicht die blasseste Ahnung?
    Plötzlich frage ich mich, worüber ich bei den Menschen, die mir nahestehen, sonst noch im Dunkeln tappe. »Äh, Zach? Du und Matt, seid ihr einmal … Ich meine, du bist doch nicht …«
    »Schwul? Nein, Sara, bin ich nicht.« Zach seufzt.
    »Nur zu, sag es! Das dürfte der Grund sein, warum sich Matt mir nicht anvertraut hat. Ich bringe es nicht einmal fertig, das Wort schwul auszusprechen.«
    »Das ist bestimmt nicht der Grund, Sara. Er wusste, dass du ihn weiterhin lieben würdest. Wahrscheinlich wartete er nur auf den richtigen Augenblick.«
    Vielleicht wollte er es mir bei der Radtour sagen, die wir nie unternahmen. Warum bin ich nicht mit ihm losgefahren? Ich balle die Faust und schlage ans Kopfbrett. Warum? Ich schlage erneut zu.
    »Es tut mir leid, Sara. Ich komme mit den Ereignissen nicht besser klar als du. Aber du solltest leise sein, sonst ist dein Dad gleich wieder zur Stelle.«
    »Hoffentlich kommt er. Dann kann ich …« Dann kann ich was? Willst du dich dann so verhalten, wie du dich immer verhalten hast, wenn es um deinen Vater ging?
    Nämlich völlig passiv.
    Ich hämmere nicht länger mit der Faust ans Kopfbrett und liege ganz still. »Was ist das?« Im Flur knarren die Bodenbretter unter Dads Schritten. Kommt er wegen der Geräusche zu uns? Jähe Anspannung erfasst mich. Zach hat recht. Ich muss mich zusammenreißen. Auf dem Nachtschränkchen liegt ein Gürtel, und ich stelle mir plötzlich vor, wie mein Vater hereinkommt, den Gürtel packt und mich damit schlägt. Es gibt keine Möglichkeit für mich, mein Gesicht zu schützen. Und was, wenn er nicht mich schlägt, sondern Zach? Und Mom?
    Ich bleibe reglos liegen, während die Sekunden verstreichen. Erneut knarrt es, die Schritte kommen näher … Dad bleibt vor unserer Tür stehen. Ich halte den Atem an, als ob das etwas nutzen würde. Zehn schreckliche Sekunden lang warte ich, dann zwanzig. Schließlich ringe ich leise nach Luft. Er ist weg.
    »Was sollen wir tun?«, flüstere ich.
    Zach antwortet nicht sofort. Ich hoffe inständig, dass er einen guten Plan hat.
    »Wir tun zunächst, was er von uns will, und warten auf eine Chance. Du bist unsere größte Hoffnung, Sara. Nur dich hat er im Bad allein gelassen. Bei dir ist er nicht so vorsichtig wie bei uns. Du musst vergessen, was dein Vater Matt angetan hat, und die Rolle der gehorsamen Tochter spielen.«
    Ich balle die Fäuste. »Keine Sorge. Diese Rolle spiele ich schon lange und habe fast vergessen, dass es eine Rolle ist.«

15
Donnerstag
    Es ist nicht einfach, mit den Armen über dem Kopf zu schlafen, das Innere voller Bilder von Pistolen und der widerhallenden Stimme des toten Bruders. Am nächsten Morgen weckt uns Dad um sieben, und es fühlt sich an, als wäre ich erst wenige Sekunden zuvor eingeschlafen. Meine Handgelenke sind taub, der Rücken ist wund, und ich muss den Oberkörper drehen, wenn ich mit ihm rede, weil mein Hals so steif ist. Und mir bricht das Herz, als ich den tapferen Zach und die verquollenen Augen
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