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Wicked - Die Hexen von Oz

Wicked - Die Hexen von Oz

Titel: Wicked - Die Hexen von Oz
Autoren: Gregory Maguire
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Tote Bäume geschickt hatte, aus seinem Versteck unter einer Kommode hervor. Er verbarg die braunen Seiten in seiner Schärpe. Er hatte sie vor seiner Frau geheim gehalten, weil er befürchtete, dass sie gern mitkommen würde – um mitzulachen, falls es vergnüglich, oder mitzuschaudern, falls es erschreckend war.
    Frex atmete tief, um seine Lungen für die Redestrapaze des Tages zu stärken, derweil Melena die Eier in der Pfanne mit einem Holzlöffel umrührte. Das Bimmeln von Kuhglocken tönte über den See. Sie hörte nicht hin, oder sie hörte stattdessen auf etwas anderes, etwas in ihrem Innern. Es war ein Klang ohne Melodie – wie Traummusik, die man wegen ihrer Wirkung im Gedächtnis behielt, nicht wegen ihrer harmonischen Spannungen und Lösungen. Sie stellte sich vor, dass es das Kind war, das in ihrem Bauch vor Glück summte. Sie wusste, dass es ein singender Junge werden würde.
    Melena hörte, wie Frex im Haus zu proben begann, sich aufwärmte, sich die donnergrollenden Sätze seiner Ansprache vorsagte, sich aufs neue von seiner Gerechtigkeit überzeugte.
    Wie ging dieser Spruch, den Ämmchen ihr vor Jahren in der Kinderstube vorgesingsangt hatte?
    Geboren am Morgen,
    Nur Leiden und Sorgen.
    Nachmittagskind,
    Im Leiden geschwind.
    Abends entbunden,
    Das Leiden schlägt Wunden.
    Geboren zur Nacht,
    Wird’s wie morgens gemacht.
    Doch ihr war das als Scherz im Ohr geblieben, liebevoll. Das Leiden ist die natürliche Bestimmung des Lebens, und doch bekommen wir unentwegt weiter Kinder.
    Nein, hallte Ämmchens Stimme in Melenas Erinnerung (wie üblich ermahnend): Nein, nein, du hübscher kleiner verzogener Fratz. Wir bekommen nicht unentwegt weiter Kinder, das ist doch sonnenklar. Wir bekommen nur Kinder, solange wir jung genug sind, nicht zu wissen, wie grausam das Leben letztendlich ist. Sobald wir das erst einmal in vollem Umfang begriffen haben – wir lernen langsam, wir Frauen –, dörren wir vor Empörung aus und stellen sinnigerweise die Produktion ein.
    Aber Männer dörren nicht aus, widersprach Melena. Sie können bis zum Tode Kinder zeugen.
    Tja, wir lernen langsam, gab Ämmchen zurück. Aber sie lernen überhaupt nichts.
    Â»Frühstück«, sagte Melena und schaufelte die Eier auf einen Holzteller. Ihr Sohn würde nicht so stumpfsinnig sein wie die meisten Männer. Sie würde ihn dazu erziehen, dem Vormarsch des Leidens zu trotzen.
    Â»Unsere Gesellschaft macht zur Zeit eine Krise durch«, deklamierte Frex. Für einen Mann, der weltliche Vergnügungen missbilligte, aß er sehr gesittet. Sie genoss es, dem geschickten Spiel der Finger und zweier Gabeln zuzuschauen. Sie hatte den Verdacht, dass er hinter seiner asketischen Fassade eine heimliche Sehnsucht nach dem guten Leben hegte.
    Â»Unsere Gesellschaft macht jeden Tag eine große Krise durch.« Witzelnd antwortete sie ihm mit den Phrasen der Männer. Der liebe Dummerjan bekam die Ironie in ihrer Stimme gar nicht mit.
    Â»Wir stehen am Scheideweg. Abgötterei droht. Die traditionellen Werte sind in Gefahr. Die Wahrheit wird bekämpft und die Tugend verworfen.«
    Er sprach weniger zu ihr, als dass er seine Tirade gegen das bevorstehende Spektakel der Gewalt und Magie probte. Es gab einen Zug an Frex, der an Verzweiflung grenzte; anders als die meisten Männer konnte er dieses Gefühl so kanalisieren, dass es seiner Lebensarbeit zugutekam. Mit einiger Beschwerlichkeit ließ sie sich auf einer Bank nieder. Ganze Chöre sangen wortlos in ihrem Kopf. War das kurz vor der Niederkunft immer so? Sie hätte gern die neugierigen Dorffrauen gefragt, die am Nachmittag vorbeikommen und schüchtern ihren Zustand begutachten würden. Aber sie traute sich nicht. Sie konnte zwar ihren vornehmen Akzent nicht ablegen, den die Frauen affektiert fanden, aber sie konnte sich bemühen, in diesen elementaren Dingen nicht ahnungslos zu klingen.
    Frex bemerkte ihr Schweigen. »Du bist mir doch nicht böse, dass ich dich heute alleinlasse?«
    Â»Böse?« Sie zog die Augenbrauen hoch, als ob ihr der Begriff noch nie untergekommen wäre.
    Â»Die Geschichte hinkt auf den Stelzfüßen kleiner einzelmenschlicher Leben dahin«, sagte Frex, »und gleichzeitig wirken größere ewige Kräfte darauf ein. Man kann sich nicht um beide Bereiche auf einmal kümmern.«
    Â»Vielleicht wird unser Kind gar
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